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Die jüdische Aufklärung : Philosophie, Religion, Geschichte / Christoph Schulte
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Das Verhältnis der Maskilim zum Talmud

über den Landesgesetzen, Ehrlichkeit und Vertrauenswür­digkeit, die ungekünstelte Liebe und Ehrerbietung der Kinder für ihre Eltern und schließlich die Heiligkeit, Zärt­lichkeit und Keuschheit der Ehen an. Weder auf den Scharfsinn noch auf die Moral der Talmudisten läßt Mai- mon einen Schatten von Kritik fallen. Gleichwohl histori­siert auch er, wie die anderen Meassfim, den Talmud selbst. In seinen Ausführungen zur Geschichte der jüdi­schen Religion Kurze Darstellung der jüdischen Religion von ihrem Ursprung bis auf die neuesten Zeiten , die eine Art Exkurs in seiner Lebensgeschichte bilden, vermittelt Maimon Realwissen von der historischen Entstehung und dem Aufbau des Talmud in sechs Ordnungen. Keinen Zweifel läßt er daran, daß der Talmud als Menschenwerk entstanden und durch die Rabbinen ein maßgeblicher Teil der jüdischen Religion geworden ist. Aber er ist damit Ge­schichte und vergänglich, nicht immergültige mündliche Tora und Offenbarung. Historisch ordnet Maimon den Talmud als vierte Epoche der jüdischen Religionsge­schichte zwischen der Entstehung der Mischna als dritter Epoche und der noch andauernden post-talmudischen fünften Epoche des rabbinischen Judentums ein:

«Die fünfte Epoche fängt von der Beschließung des Tal­muds an und geht bis auf unsre Zeiten und so fort in alle Ewigkeit (si diis placet) bis zur Ankunft des Messias. Seit der Beschließung des Talmuds sind die Rabbiner auch nicht müßig; sie dürfen zwar an der Mischna und dem Talmud nichts ändern, ihr Geschäft besteht aber darin, diese so zu erklären, daß sie mit sich selbst übereinstim­men müssen (welches wahrhaftig keine Kleinigkeit ist, in­dem immer der Rabbiner nach einer superfeinen Dialektik in den Erklärungen des andern Widersprüche findet) aus dem Labyrinth von verschiedenen Meinungen, Auslegun­gen, Streitigkeiten und Entscheidungen, die auf jeden Fall anwendbaren Gesetze herauszuwickeln; und endlich neue, durch alle bisherigen Bemühungen unbestimt gebliebene Gesetze für neue Fälle durch Schlüsse aus den schon be-