Das hauptsächlichste Augenmerk unserer Nation 103
kannten herauszubringen und ein vollständiges Gesetzbuch zu verfertigen .» 137
Dieses hier genau beschriebene Verfahren rabbinischer Traditionsbildung als die Fortbildung und Weiterentwicklung eines als unantastbar geltenden und unveränderlichen Fundus von Texten durch immer neue Kommentierung und Kombination im Anschluß an vorhandene Literatur findet Maimons Kritik. Das Verfahren schult zwar den Scharfsinn durch «superfeine Dialektik» bei der Vermittlung der unterschiedlichsten Meinungen, aber es ist weder zeitgemäß noch sachgemäß, denn Texte können veralten und ihren Sinn verlieren. Besonders augenfällig wird der Mißbrauch dort, wo Mizwot des Talmud gegenstandslos geworden sind und dennoch das Lernen, die Kommentierung und Kompilation sinnlos fortgesetzt wird, wie z.B. bei den Mizwot bezüglich des Tempelopfers trotz Zerstörung des Tempels.
«So wird die ihrem Urprung nach natürliche, der Vernunft angemessene Religion mißbraucht. Ein Jude darf weder essen noch trinken, weder bei seiner Frau schlafen noch seine Notdurft verrichten, ohne dabei eine ungeheure Anzahl Gesetze zu beobachten. Mit den Büchern über das Schlachten (die Beschaffenheit des Messers und die Untersuchung der Eingeweide) könnte man allein eine Bibliothek ausfüllen, die gewiß der Alexandrinischen nahekommen würde. Und was soll ich von der ungeheuren Anzahl Bücher sagen, die von solchen Gesetzen handeln, welche nicht mehr im Gebrauch sind, wie z. B. die Gesetze der Opfer, der Reinigung usw.? Die Feder entfällt meiner Hand bei der Erinnerung, daß ich und mehrere meinesgleichen die besten Jahre, wo die Kräfte in ihrer vollen Stärke sind, mit diesem geisttötenden Geschäft zubringen und Nächte durchwachen mußte, um, wo kein Sinn ist, einen Sinn hereinzubringen, Widersprüche, wo keine zu finden waren, durch Witz zu entdecken, und da, wo sie offenbar anzutreffen sind, durch Scharfsinn zu heben, durch eine lange Kette von Schlüssen nach einem