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Die jüdische Aufklärung : Philosophie, Religion, Geschichte / Christoph Schulte
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104 Das Verhältnis der Maskilim zum Talmud

Schatten zu haschen und Schlösser in die Luft zu

bauen .» 138

Der Mißbrauch des Scharfsinns bei den Talmudisten er­zeugt Sinnloses, am Ende Unvernunft. Hier wird der Ton bitter, wenn Maimon auf seine Jugend zurückblickt. Den­noch haßt er Talmud und Talmudisten nicht, sondern will ihnen unparteiisch Gerechtigkeit widerfahren lassen. Mai­mon wehrt sich gegen den blinden, unzeitgemäßen Miß­brauch des Talmud und die Vergeudung von Zeit, Geist und Kräften beim sinnlosen Talmudlernen der Jugend­lichen, die statt dessen besser dem Studium von Wissen­schaften und Künsten gewidmet wären. Hierin ist er sich aufgrund eigener Erfahrung mit Wessely, Euchel und Friedländer ganz einig: Pädagogisch ist das traditionelle, unsystematische Talmudlernen der Jugendlichen besten­falls Zeitverschwendung auf Kosten profaner Bildung und Aufklärung.

Wie immer Maimon die Moral der Talmudisten vertei­digt, macht er doch zugleich deutlich, daß der Talmud in der Gegenwart keine normative Geltung mehr beanspru­chen kann. Der Talmud ist ein Dokument der jüdischen Religionsgeschichte mit veralteten und daher irrelevanten Geboten. Diese Gebote sind nicht Priestererfindung und Herrschaftsinstrument, das unterstellt Maimon nicht, sie sind einfach nur Geschichte. Daß sich diese Erkenntnis von der geschichtlichen Überholtheit in Osteuropa noch nicht durchgesetzt hat, läßt Maimon am Erfolg der Has- kala und der Meassfim in den Stetlach Osteuropas zwei­feln. Wohl zu recht, denn die Haskala hat dort erst viele Jahre später nennenswerte Erfolge gehabt. Maimon selbst ist aus dem Milieu des Stetl in die Berliner Haskala emi­griert, sein Blick zurück ist oft zornig. Aber eine Diffamie­rung des Talmud läßt er nicht zu. Das wäre, nicht zuletzt, die Diffamierung seines eigenen Werdegangs.