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Die jüdische Aufklärung : Philosophie, Religion, Geschichte / Christoph Schulte
Entstehung
Seite
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Das Verhältnis der Maskilim zum Talmud

der Talmudisten innerhalb des Judentums gab. Schließlich waren es die Rabbinen, die den zuvor mündlich tradierten Talmud verschriftlichten und als solchermaßen verschrift­lichte <mündliche Tradition> bekannt gemacht, bewahrt und verteidigt haben.

So weit die historische Genese, aber hier stellt Ascher sich und dem Leser die für ihn entscheidende Frage, wie es in der Gegenwart um die normative Autorität des Tal­mud bestellt sei: «Man wird leicht erachten können, daß ich dem Talmud gar nicht seine Autorität nehme, in so fern er sich auf mündliche Tradition gründet; sondern in so fern er die Erläuterung der Talmudisten enthält. Es ist daher die Frage: ob wir eine Autorität unterdrücken dür­fen, die sich die Talmudisten, durch den Beifall und die Annahme ihrer Bestimmungen und Erläuterungen der Tradition, in jenem Zeitalter erworben haben?» 141

Ihre Autorität haben sich die Talmudisten erworben, in­dem sie mit dem Talmud dem Judentum eine «Constitu­tion», d. h. eine Verfassung gaben, die es bis in die Zeiten der Haskala behielt. Aufklärung aber muß, so Ascher, diese Autorität der Talmudisten kritisch beleuchten, die in prallem «Sectirergeist» das Judentum zu einer Religion des Gesetzes machten. Nun ist Ascher wie viele andere Maskilim überzeugt, «daß das Gesetz nicht das Wesen des [jüdischen] Glaubens einzig und allein ausmache». 142 Es sei vielmehr ein «Wahn» der Talmudisten, daß das geof- fenbarte Gesetz das Wesentliche im Judentum sei. 143

Für den Kantianer Ascher aber hat dieses Gesetzliche im Judentum nur regulativen, nicht konstitutiven Charak­ter. Die Entstehung des Gesetzes läßt sich historisch erklä­ren, die Gebote hatten einst alle einen Sinn und eine Funktion, aber in der Jetztzeit gilt das nicht mehr. Darum sind sie aktuell nicht mehr wesentlich. In der Gegenwart steht das Gesetz, die Halacha, vielmehr der Entwicklung von Juden und jüdischer Religion in den modernen Ge­sellschaften im Wege. Weil das Gesetz demnach nicht we­sentlich ist, kann es, sofern es der bürgerlichen Verbesse-