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Die jüdische Aufklärung : Philosophie, Religion, Geschichte / Christoph Schulte
Entstehung
Seite
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Eine Genealogie der jüdischen Moral m

zerschmettern, oder ihren schwindenden Kräften wieder emporhelfen, und ihnen Muth zum Ausharren geben wird. ... Man raf[fjte daher solche Ceremonien von Hey­den, Griechen, Römern und der neu entstandenen christ­lichen Religion zusammen, die sich einigermassen mit dem Judenthume vertrugen, setzte Gebethe an die Stelle der Opfer, Ceremonialgesetze an die Stelle der praktischen mosaischen Gesetze, Glaubensartikel an die Stelle der Handlungen, einen neuen Glauben an die Stelle der alten Religion ein .» 150

Das rabbinische Judentum, so läßt sich diese Genealogie zusammenfassen, entsteht religionspsychologisch aus einer Fehlinterpretation der Tempelzerstörung als Sündenfolge und einer Überkompensation dieses Sündenbewußtseins durch religiösen Eifer und Herausbildung der Halacha. In der Fortsetzung dieser Genealogie spielt der Talmud eine wichtige Rolle, denn es bildet sich ein Rabbiner-Stand heraus, dessen alleinige Aufgabe in der Bewahrung der Gebote jenes leidigen «Ceremonialgesetzes» bestand, auf dessen Beseitigung Bendavids Büchlein drängt. Damit be­gibt sich, ohne dieses dem Leser zu sagen, Bendavid in direkten Gegensatz zu dem bei ihm immer nur positiv reklamierten Mendelssohn. Mendelssohn hatte deren Ver­änderung strikt abgelehnt. Für Bendavid hingegen sind die Zeremonialgesetze Menschenwerk, das durch die Has- kala beseitigt werden kann und soll.

Denn, so führt er aus, die Rabbiner sorgten mittels der immer strengeren Ausarbeitung und Bewahrung des Zere- monialgesetzes (Singular!) bis in die unmittelbare Gegen­wart für «die gänzliche Absonderung» der Juden von den Christen und damit für «ihre gänzliche Unwissenheit in allem, was diese im Fache der Gelehrsamkeit geleistet hat­ten». Die jüdische Gesellschaft in ihrer Absonderung ver­dummte und erstarrte in Ehrfurcht vor dem Rabbi, «des­sen ganze Verdienste, Frömmigkeit und Kenntnisse des Thalmud waren». Alle begabten Jünglinge wollten Rab­biner werden, denn auf «Anhänglichkeit am Ceremonial-