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Das Verhältnis der Maskilim zum Talmud
gesetze, auf schuftiges Ansehn, auf Unwissenheit im Laufe der Dinge, wurde der größte Werth gesetzt; man lebte und webte im Thalmud, weil man dadurch die Achtung des Rabbi zu erlangen hof[f]te». Wie sein Freund und Mitstreiter Maimon betont Bendavid, daß unter den Juden traditionell nur das Talmud-Lernen etwas galt, die profanen Kenntnisse von Wissenschaft, Künsten und Sprachen jedoch gänzlich vernachlässigt wurden. Gleiches gilt sogar für die Bibel: «Das Studium des Thalmuds, das mit Vernachlässigung der Bibel getrieben wurde», so Bendavid, führte zum Verlernen der reinen hebräischen Sprache, einem «Verfall der Sprache», der mit einem «Verfall der Gedanken» verbunden ist: «Der Jude, der keine richtige Sprache hatte, verlernte auch das richtige Denken.» Die schlimmste Sorte von Talmudisten wiederum sind die «Charriphim», die scharfsinnigen Köpfe, die nicht klar denken, aber alles mit allem kombinieren können; sie tragen, so Bendavid, den Juden den Namen von Betrügern und Rechtsverdrehern ein. 151
An dieser Stelle wird die Genalogie der jüdischen Moral bis auf ihre gegenwärtigen «gesellschaftlichen Fehler» endgültig zu einer Pathologisierungsstrategie: Der «polnische Jude», seines Zeichens Talmudist, wird zur Ursache und Verkörperung der gegenwärtigen Mißstände, der Sonderstellung, der Unbildung und der Ungeselligkeit der Juden in den aufgeklärten christlichen Gesellschaften erklärt. Erst die «Aufklärung des Juden» seit der Mitte des 18 . Jahrhunderts, die mit Mendelssohn und seinem Kreis anhob, kann und wird dieses Bild ändern. Die aufgeklärten Juden werden und sollen aus eigenem Antrieb, nicht durch «aufgedrungene Aufklärung» seitens der christlichen Landesherren, «alles sinnlose Ceremonialgesetz» abschaffen, den Talmud als «Zaun» um die Tora aufgeben und zur «reinen Lehre Mosis» zurückkehren. Diese reine Lehre Mosis wird von Bendavid, äußerst gewagt und zweifelhaft, mit der «Lehre der natürlichen Religion» identifiziert. 152 Es war ein Fehler der Vergangenheit, Zere-