Eine Genealogie der jüdischen Moral 113
monialgesetz und Sittlichkeit zu verwechseln : 153 Nur ein Jude ohne Talmud und Zeremonialgesetz kann zugleich sittlich und aufgeklärt leben und sich bürgerlich neben seinen christlichen Zeitgenossen entfalten.
In Bendavids jüdisch-aufgeklärter Genealogie der Moral ist die Rolle des Talmud eindeutig bestimmt: Er ist ein Produkt der jüdischen Geschichte in der Diaspora, aber er ist darin auch Ursache von Fehlentwicklungen und Mißständen des Judentums, nämlich der Ausbildung von Religionshaß und Intoleranz, der gesellschaftlichen Trennung von Juden und Christen sowie der Unbildung in Wissenschaften und Künsten. Wegen des Talmud und der Zere- monialgesetze sind die Juden gegenüber der christlichen Aufklärung im Rückstand. Insofern ist die Geschichte des durch den Talmud geprägten Judentums nicht nur eine Leidens-, sondern auch eine Krankheitsgeschichte. Talmud und Talmudisten sind Teil dieser Pathologie, auch wenn diese nicht gänzlich selbstverschuldet ist. Aber wenn die Juden in der Gegenwart ihre Fehler nicht wahrnehmen und die Hindernisse auf dem Weg der bürgerlichen Verbesserung nicht beseitigen, tragen sie, wo doch selbst die christlichen Herrscher ihre Aufklärung wollen, selbst dafür die Verantwortung.
Die Talmudisten sucht Bendavid mit dieser Programmatik allerdings nicht zu überzeugen. Ähnlich wie Maimon hält Bendavid, der nach Angaben seiner eigenen Lebensbeschreibung in drei Jeschivot gelernt hat , 154 die jüdischen Traditionalisten für nicht aufklärungsfähig. Er wendet sich in seinem Büchlein deshalb nur an aufklärungswillige Zeitgenossen. Die Talmudisten und Traditionalisten, die «den ganzen Wust von Tradition auf Treu und Glauben» annehmen, schreibt er als eine ganze Klasse von Juden samt und sonders ab. Diese Klasse ist für die Haskala verloren zu geben. «Sie wird immer und ewig unverbesserlich bleiben, und ihr Aussterben ist die einzige Hof[f]nung für die Nachkommenschaft .» 155 Damit gesteht Bendavid ein, daß, da diese Klasse von Juden zu seiner Zeit noch den