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Die jüdische Aufklärung : Philosophie, Religion, Geschichte / Christoph Schulte
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148
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148 Die Entdeckung des Chassidismus

mon nicht nur von den Frömmigkeitsübungen der Chassi- dim, sondern von der religiösen Praxis überhaupt. Er hält schließlich die Gebetszeiten nicht mehr ein, geht nicht mehr regelmäßig in die Synagoge und sieht zuletzt das Be­ten selbst als etwas Überflüssiges an. Aber ausgerechnet in diesem Stadium seiner Lebensgeschichte kommt Salomon Maimon mit einer neuen Art von Chassidim in Berüh­rung, die ihm wie das Gegenstück zu den Chassidim er­scheinen, die er bislang kennt.

«Ungefähr um diese Zeit wurde ich mit einer damals emporkommenden Sekte meiner Nation, neue Chassidim genannt, bekannt. Chassidim überhaupt heißen bei den Hebräern die Frommen, d.h. diejenigen, die sich durch Ausübung der strengsten Frömmigkeit vor andern hervor­tun. (...) Aber um diese Zeit warfen sich einige darunter zu Stiftern einer neuen Sekte auf. Diese behaupteten, die wahre Frömmigkeit bestehe keineswegs in der Kasteiung des Körpers, wodurch zugleich die Seelenkräfte geschwächt und die zur Erkenntnis und Liebe Gottes nötige Seelenruhe und Heiterkeit zerstört werde; sondern umgekehrt, man müsse alle körperlichen Bedürfnisse befriedigen und von al­len sinnlichen Vergnügungen, soviel wie zur Entwicklung unserer Gefühle nötig sei, Gebrauch zu machen suchen, in­dem Gott alles zu seiner Verherrlichung geschaffen habe. Der wahre Gottesdienst bestand, ihnen zufolge, in An­dachtsübungen mit Anstrengung aller Kräfte und Selbstzer- nichtung vor Gott, indem sie behaupteten, daß der Mensch, seiner Bestimmung nach, seine höchste Vollkommenheit nicht anders erreichen könne, als wenn er sich nicht als ein für sich bestehendes und wirkendes Wesen, sondern bloß als ein Organ der Gottheit betrachte. Anstatt also, daß jene ihr ganzes Leben in Absonderung von der Welt, Unterdrük- kung ihrer natürlichen Gefühle und Tötung ihrer Kräfte zu­brachten, glaubten diese weit zweckmäßiger zu handeln, wenn sie ihre natürlichen Gefühle soviel als möglich zu ent­wickeln, ihre Kräfte in Ausübung zu bringen und ihren Wir­kungskreis beständig zu erweitern suchten .» 227