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Die jüdische Aufklärung : Philosophie, Religion, Geschichte / Christoph Schulte
Entstehung
Seite
149
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Maimon als Augenzeuge 149

Hier ist Salomon Maimon derjenigen Gruppe von Frommen begegnet, die ausgehend von Israel Baal Schern Tov (1700-1760) und seinem Nachfolger, dem «großen Maggid» Dov Baer von Meseritsch (gest. 1772), sich bei­nahe explosionsartig in Polen und in der Ukraine ausbrei­tete. Diese anti-asketische Bewegung ist durch die Nach­dichtungen seiner Legenden bei Martin Buber heute als der Chassidismus bekannt. Maimon liefert seinem Leser mehr als einen Augenzeugenbericht, er analysiert diese Be­wegung, ihre Aktivitäten und Eigenarten sowie die Ursa­chen ihres Erfolgs:

«Daß aber diese Sekte sich so geschwind ausbreitete und ihre Lehre bei dem größten Teile der Nation so vielen Beifall fand, läßt sich sehr leicht erklären. Die natürliche Neigung zum Müßiggang und zur spekulativen Lebensart des größten Teils der Nation, der von der Geburt an zum Studieren bestimmt wird, die Trockenheit und Unfrucht­barkeit des rabbinischen Studiums und die große Last des Zeremonialgesetzes, die diese Lehre zu erleichtern ver­spricht, endlich die Neigung zur Schwärmerei und zum Wunderbaren, die durch diese Lehre genährt wird, sind hinreichend, dieses Phänomen begreiflich zu machen.» 228

In Maimons Analyse findet zusammen, was wir heute Religionssoziologie und Religionspsychologie des Chassi­dismus nennen würden. Hauptgegenstände der Angriffe des neuen, lebensbejahenden Chassidismus sind seiner An­sicht nach «1) der Mißbrauch der rabbinischen Gelehr­samkeit, die, anstatt die Gesetze soviel als möglich zu sim­plifizieren und jedem kenntlich zu machen, dieselben im­mer noch mehr verwirrt und unbestimmt sein läßt», und «2) Der Mißbrauch der Frömmigkeit der sog. Bußferti­gen», die, statt mit ihren Begierden und Leidenschaften natürlich umzugehen, diese so unterdrücken und vernich­ten, daß sie sicji dabei selbst zerstören. 229 Dagegen billigte der neue Chassidismus den mäßigen Genuß aller Arten von Vergnügungen zwecks Erlangung von Heiterkeit des Gemüts.