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Die jüdische Aufklärung : Philosophie, Religion, Geschichte / Christoph Schulte
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160
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160 Kant und die jüdische Aufklärung

xer», religionsgesetzlich observanter Jude. Für ihn heißt Emanzipation des Judentums und der Juden nicht die Ver­änderung, Modernisierung oder gar Befreiung von der einzig den Juden durch Mose aufgegebenen «göttlichen Gesetzgebung» und dem Talmud . 243 Für Mendelssohn sind Aufklärung, bürgerliche Gleichberechtigung der Ju­den und strikte Observanz gegenüber der Halacha mitein­ander vereinbar. Kantisch gesagt, bekennt sich Mendels­sohn in Jerusalem gerade zur moralischen Heteronomie der religiösen Gebote des Judentums in seiner rabbini- schen Tradition und Auslegung.

ln diesem Punkt ist Mendelssohn repräsentativ für die erste Generation jüdischer Aufklärer in Berlin, für Hart­wig Wessely, Isaak Satanow, Marcus Elieser Bloch oder Salomo Dubno. Sie alle fordern Aufklärung und die Be­schäftigung mit moderner Bildung, mit Künsten und Wis­senschaften für Juden, aber sie stehen noch tief in der rab- binischen Tradition der Halacha, die sie interpretieren, nicht umwerfen oder verändern wollen. Die religiösen Ge­bote der Halacha sind nach ihrem Verständnis gottgege­ben und daher unumstößlich und unveränderlich. Diese im Kern ahistorische Auffassung der religiösen Gebote und der Offenbarung - «die Tora ist vom Himmel» und daher unveränderlich - ebenso wie die Zurücksetzung des Judentums als Vorstufe des Christentums gehen ein in Mendelssohns klare Ablehnung eines moralischen Fort­schritts des Menschengeschlechts. Mendelssohn kritisiert in diesem Punkt sogar seinen verstorbenen Freund Lessing und dessen Schrift über die Erziehung des Menschenge­schlechts . 244 Hier ist Jerusalem unvereinbar mit Kants Ge­schichtsphilosophie und ihrem Fortschrittsoptimismus hinsichtlich der moralischen Besserung des Menschenge­schlechts. Mendelssohns Position wird von Kant folge­richtig im Streit der Fakultäten als «Abderitismus» ge­kennzeichnet und kritisiert : 245 Für Mendelssohn ist die Geschichte des Menschengeschlechts eine Abfolge von Fortschritten und Rückschritten ohne allgemeine Verbes-