Vernunft als Richter: Isaak Euchel 161
serung der menschlichen Moralität. Die Weltgeschichte ist ein moralisches Nullsummenspiel, und die Juden haben darin der Tora zu gehorchen.
Nicht nur in diesem letzten Punkt der Fortschrittsskepsis hinsichtlich der Moralisierung des Menschengeschlechts geht die zweite Generation der jüdischen Aufklärer philosophisch andere Wege. Es kommt nie zu einem offenen Bruch oder Streit mit Mendelssohn und seinem Werk, weder zu seinen Lebzeiten noch nach seinem Tod. Aber die Söhne des «Vaters» der Haskala sind nicht seine Schüler. Mendelssohn wird zur Ikone der jüdischen Aufklärung und zur Referenzinstanz des deutschen Judentums bis 1933, aber es gehört zur Tragik von Jerusalem, daß dieses Buch bei seinem Erscheinen schon veraltet ist. An seine politischen Forderungen wird angeknüpft, aber Mendelssohns philosophischer Argumentation schließt sich kein Maskil der zweiten Generation mehr an. Denn die maßgeblichen Autoren der zweiten Generation der Haskala sind Kantianer. Markus Herz und Isaak Euchel haben direkt bei Kant in Königsberg studiert, Lazarus Bendavid, Salomon Maimon und Saul Ascher sind Kant-Adepten und Kant-Kommentatoren der ersten Stunde.
1. Vernunft als Richter: Isaak Euchel
Wie direkt und unmittelbar der Einfluß Kants auf die zweite Generation der jüdischen Aufklärer war, zeigt besonders deutlich ein programmatischer Aufsatz von Isaak Euchel, der von 1782 bis 1786 in Königsberg bei Kant studiert und eine Mitschrift von Kants Anthropologie-Vorlesung angefertigt hatte, und für dessen Anstellung als Sprachlehrer an der Philosophischen Fakultät der Königsberger Universität sich Kant vergeblich verwendet hatte. 246 Dieser Aufsatz erschien im Spätherbst 1783 im ersten Heft des ersten Jahrgangs der hebräischen Zeitschrift HaMe’as- se f unter dem Titel Ein Wort an die Leser über den Nutzen