i6z Kant und die jüdische Aufklärung
der Beschäftigung mit vergangenen Zeiten , 247 erschien nur wenige Monate nach Mendelssohns Jerusalem , ohne diese Schrift oder ihren Autor mit einem Wort zu erwähnen. Statt dessen bringt der Text die erste Paraphrase der Kritik der reinen Vernunft in hebräischer Sprache, und zwar der Einleitung zur Transcendentalen Logik (KrV. A 50-55). Ausdrücke wie «die transcendentale Philosophie» oder «aus Begriffen a priori», die es im Hebräischen damals noch gar nicht gab, werden hier erstmals als Neologismen gebildet, aber werden sicherheitshalber im Anmerkungsapparat auch in lateinischen Buchstaben auf Deutsch wiedergegeben. Der Name Kant fällt nicht, es fällt aber auch kein anderer Autorenname eines Christen in diesem Text. Wie dies in vielen traditionellen rabbinischen Texten üblich ist, verschwindet der Autor ohne Nennung hinter seinem Buch oder einer Bezugnahme auf dessen Inhalt. Sapienti sat.
Dennoch wird deutlich, daß das Philosophie-Ideal und -Modell dieses Euchel-Textes die Kritik der reinen Vernunft ist. Das ist, nur zwei Jahre nach deren Erscheinen, mehr als ein Kuriosum. Dahinter steckt Programm. Denn in demselben Aufsatz wird durch häufige Wiederholung des hebräischen Adjektivs und Substantivs maskilim dieser Begriff als Selbstbezeichnung der jüdischen Aufklärer in Anspruch genommen und etabliert. 248 Und die menschliche Vernunft wird, wohl in Anlehnung an Kants Metapher vom Gerichtshof der Vernunft, als «zuoberst sitzender Richter» 249 inthronisiert, welchem hier der philosophische, literarische, politische und pädagogische Nutzen der bei den Rabbinern kaum bekannten und anerkannten profanen Geschichte und Geschichtsschreibung demonstriert wird. Euchel legitimiert seine Ausführungen über den Nutzen der Historie für die Aufklärung durch Verweise auf die mittelalterliche jüdische Philosophie und Aufklärung, namentlich auf Bachja Ibn Pakudas Chovot HaLevavot («Die Herzenspflichten») und auf Maimoni- des’ More Nevuchim («Führer der Unschlüssigen»), aber