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Die jüdische Aufklärung : Philosophie, Religion, Geschichte / Christoph Schulte
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Religion der bloßen Vernunft: Saul Ascher 165

mag, setzt auch für ihn Kant, nicht Mendelssohn, die phi­losophischen Maßstäbe. Als Maskil ist Herz radikaler als Mendelssohn: Im zweiten sog. Beerdigungsstreit um die frühe Bestattung von Juden 1787 vertritt Herz klar einen medizinisch-wissenschaftlichen Standpunkt gegen die hala- chischen Bestimmungen, während Mendelssohn im ersten Beerdigungsstreit von 177z die Halacha noch vorsichtig und immanent uminterpretiert hatte. 254

3. Religion der bloßen Vernunft: Saul Ascher

Nicht nur wie im Einzelfall des Beerdigungsstreits, sondern generell und prinzipiell gegen die Halacha gerichtet ist Saul Aschers Buch Leviathan oder Ueber Religion in Rücksicht des Judenthums von 1792. Es ist der erste große Entwurf einer Reform der ganzen jüdischen Religion in der Moderne, und Ascher gilt als der erste Theoretiker des modernen Reformjudentums. 255 Ascher fordert in explizi­ter Entgegensetzung zu Mendelssohns Beharren auf der Halacha eine «Reformation» des religiösen Judentums, ein Judentum auf biblischer Grundlage ohne die Last der rab- binischen Tradition. 256 Dieser Leviathan ist die Applika­tion von Elementen der Kritik der reinen Vernunft, der Kritik der praktischen Vernunft und der Kritik der Urteils­kraft auf die jüdische Religion, der fünfundzwanzigjährige Ascher versucht sich in einer jüdischen Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft, bevor Kant selbst seine gleichnamige Schrift 1793 publiziert hat.

Laut Ascher wird Religion von Menschen historisch ge­staltet und verändert. Er hält an der Offenbarung der Tora an Israel als einem jüdischen Glaubensartikel fest, aber die Gebote der Halacha haben regulativen, nicht nor­mativen Charakter. Sie sind eine Art pädagogisches Instru­mentarium bei der Erziehung des Menschengeschlechtes, aber das Judentum sei «auf einer wahren Autonomie des Willens gegründet». Gott habe den Juden die Gesetze