Zo8 Jüdischer Sokrates und jüdischer Diogenes
lauthals geltend. Diese Bedürfnislosigkeit verschaffte ihm Unabhängigkeit, ökonomisch und intellektuell. Er mußte keine Rücksicht nehmen. Einer, der nichts hat, hat auch nichts zu verlieren. Seine Schamlosigkeit war ebenso berüchtigt wie seine Unhöflichkeit, Aggressivität und schonungslose Ehrlichkeit. Wie ein Hund verrichtete der Kyniker seine Geschäfte auf der Straße: Er frißt, pißt, onaniert und kopuliert öffentlich. Und er sagt allen rücksichtslos die Wahrheit ins Gesicht, ohne Umstände, ohne Floskeln, und laut.
Diogenes erkennt die Regeln von Höflichkeit, die Gesetze der Polis, ihre bürgerlichen Normen und ihre Machthierarchien nicht an. Er hat keine Angst, ein Außenseiter zu sein. Er definiert sich, ganz anders als Sokrates, nicht als Bürger der Polis Athen, sondern als «Weltbürger». 335 Diogenes ist der erste Kosmopolit der Philosophiegeschichte, seine Staatsordnung, sagt er, ist der Kosmos. Das setzt ihn in den Stand, die Normen der Polis zu mißachten. Der Kyniker orientiert sich an seinen Bedürfnissen, nicht am Überbau. Er hält den Bürgern von Athen den Spiegel vor.
Freiheit, als Autarkie verstanden, geht Diogenes über alles. 336 Skeptisch hält er es für den einzigen Gewinn der Philosophie, auf jede Schicksalswendung gefaßt zu sein. 337 Aber unabhängig auf das Schicksal reagieren zu können. Der Kyniker Diogenes wurde, anders als der loyale Stadtbürger Sokrates, der gehorsam den Schierlingsbecher trinkt, sehr alt, nämlich ungefähr 90 Jahre. 338 Todesursache, da schwanken die Berichte, war entweder die Cholera oder ein Hundebiß oder ein Suizid durch Anhalten des Atems. Er wäre, sagt ein Bericht, damit einverstanden gewesen, unbeerdigt von den Hunden gefressen zu werden. So ist sein toter Körper noch den Tieren behilflich. Und die anderen müssen ihn nicht einmal verscharren, so unabhängig ist dieser Kyniker. Von Sorgen um seine Seele berichten die Berichte nicht.