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Die jüdische Aufklärung : Philosophie, Religion, Geschichte / Christoph Schulte
Entstehung
Seite
210
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2io Jüdischer Sokrates und jüdischer Diogenes

einzige Kollektiv, zu dem er sich zählt und zu dem er auch gezählt wird, ist «unsere jüdische Nation». 341

Dieses Judesein hat er mit Mendelssohn gemeinsam, aber das trennt ihn auch ganz scharf von Mendelssohn. Denn während Mendelssohn Observanz praktizierte, hat Maimon, wie er offen gesteht, «die von Maimonides fest­gesetzten 13 Glaubensartikel» «alle mit philosophischen Gründen» angegriffen und diese Schrift an Mendelssohn geschickt. 342 Mendelssohn hat auf diese Provokation ganz gelassen reagiert, obwohl Maimon mit diesem Angriff auf die Ikkarim als Philosoph die Basis observanter jüdischer Religiosität in Frage gestellt hat. Ganz zu schweigen von seinem überaus unorthodoxen Alltagsverhalten, von dem seine Lebensgeschichte ebenso wie die Maimoniana (1813) seines Freundes und Biographen, des Arztes Sabat- tia Wolff, 343 zeugen. Maimon hat noch beim Sterben und im Gegensatz zu Mendelssohn die Fragen nach der Exi­stenz Gottes oder der Unsterblichkeit der Seele zu Glau­bensfragen erklärt, die einen Philosophen nicht interessie­ren und ihm nicht helfen. 344 Maimon begriff sich als Jude, aber er hat seit seiner Ankunft in Berlin die jüdische Reli­gion nicht mehr praktiziert und, wie Sabattia Wolff schreibt, «viele Jahre als Nichtjude gelebt». 345

Nur tat er das nicht heimlich, sondern in aller Öffent­lichkeit. In seiner allen Juden und Nichtjuden zugäng­lichen, weit verbreiteten und vielgelesenen Lebensge­schichte bekennt er sich, angeblich Mendelssohn gegen­über, offen als «Freidenker». 346 Maimon erzählt dort auch von seiner Weigerung zu beten, weil er Gebete und Segenssprüche «als Folge eines anthropomorphistischen Systems der Theologie» betrachtet. 347 Kurz: Der ehema­lige Rabbiner Salomon Maimon verweigert als Philosoph jede religiöse Praxis und bricht in aller Öffentlichkeit die Gebote. Diese und andere einschlägige Anekdoten aus Sa­lomon Maimons Lebensgeschichte mögen erfunden oder inszeniert sein. Aber selbst dann sind sie Elemente einer öffentlichen Selbstdarstellung, die oft Züge einer Selbst-