212 Jüdischer Sokrates und jüdischer Diogenes
entblößung hat. Denn hier produzierte sich ein Jude in einem Buch in deutscher Sprache vor dem jüdischen und dem nichtjüdischen Publikum und legte ein Selbstbekenntnis zur unbürgerlichen, kynischen Haltung und Lebensform ab, das in Zügen von der Tradition des Schelmenromans geprägt ist.
Philosophisch hat sich Salomon Maimon mit Mendelssohns Denken und Haltung sehr kritisch auseinandergesetzt. Es gibt, neben einer ausdrücklichen Kritik im Givat HaMore (1791), zu den Morgenstunden eine Bemerkung, die Maimons ganze Verachtung für Mendelssohns Philosophie preisgibt: Die Morgenstunden , schreibt Maimon in seiner Lebensgeschichte, seien nach der Kritik der reinen Vernunft so überholt, daß sich ihre Widerlegung erübrigt. 348 Denn Mendelssohn mit Kant zu widerlegen sei so, als wenn man eine astronomische Abhandlung des Maimonides, die auf dem ptolemäischen Weltbild beruhe, mit Newton widerlegen wolle. Nach Kants kopernikani- scher Wende der Philosophie ist die Metaphysik Mendelssohns so veraltet wie die ptolemäische Kosmologie. 349
Nachdem indessen die ewigen Vernunftwahrheiten der dogmatischen Schulphilosophie durch Kant <zermalmt> worden waren (so die Metapher Mendelssohns am Anfang seiner Morgenstunden ), kann der kritische Philosoph und Selbstdenker Maimon ihnen keine eigenen philosophischen Lehren dogmatisch entgegensetzen. Seine eigenen philosophischen Versuche seit dem Versuch über die Transzendentalphilosophie von 1790 verschreiben sich einer Kritik der Kantischen theoretischen Philosophie, sie sind Kritik der Kritik, Erkenntnistheorie. Für die praktische Philosophie Kants, seine Rechtsphilosophie oder Geschichtsphilosophie interessierte sich Maimon allenfalls am Rande, hier schloß er philosophisch nicht an. Seine Kant-Lektüre ist ausgesprochen selektiv, nämlich fast ausschließlich auf ausgewählte Passagen der Kritik der reinen Vernunft beschränkt. Weder in der Philosophie noch in seinem Alltagshandeln hat Maimon Kants kategorischem