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Die jüdische Aufklärung : Philosophie, Religion, Geschichte / Christoph Schulte
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214 Jüdischer Sokrates und jüdischer Diogenes

und z. B. eine Apothekerlehre abbricht, seine Hofmeister- Stellen in wohlhabenden jüdischen Familien aufgibt oder wegen seines Verhaltens gekündigt wird, da er sein Geld verliert oder vertrinkt, verarmt er zusehends und ist in permanenter Geldnot, bis ihn 1795 der Graf Kalckreuth aufnimmt. Aber zu diesem Zeitpunkt hat es sich Maimon mit seinen jüdischen Gönnern und Freunden längst ver­dorben, indem er ihnen offen heraus seine Wahrheiten an den Kopf wirft und ihre Mittelmäßigkeit konstatiert.

Die Gesellschaft der Freunde, eine der geselligen Verei­nigungen der Maskilim, ist ihm zu steif, er erklärt sie bald zur Gesellschaft der Feinde. 353 In die Salons geht er ohne­hin nicht gern, er haßt steife Sitten und small talk, iSA er ist heruntergekommen und schmutzig, bringt seinen Hund mit zum Tee, 355 benimmt sich dann unhöflich, er disku­tiert dort lautstark und ausgerechnet im verachteten Jid­disch, 356 und er wird deshalb schließlich nicht mehr einge­laden. Wie Diogenes lebt Maimon ohne Frau in dauernd wechselnden Wohnungen, meist allein mit seinem Hund und mit Vögeln, die die Wohnung einkoten. 357 Er lebt ohne Plan in den Tag hinein und bekennt sich zu dieser Lebensweise. 358 Maimon besitzt nichts als einen Koffer und ganz wenige Bücher, schreibt nach Lust und Laune und abhängig vom Wetter, 359 verbringt viele Tage und alle Abende in Kaffeehäusern und Kneipen. Seine Bücher wer­den in Kabinetten gelesen, sind aber auf der Bierbank ge­schrieben, wie es eine Anekdote bei Wolff meldet. 360 Mai- mons «Debauchen», sein Alkoholismus und seine lautstar­ken Dispute in der Öffentlichkeit erregen Auffallen, 361 oft ist er so betrunken, daß er sich am nächsten Tag an nichts mehr erinnert. 362 Sein Leben auf der Straße, in den Knei­pen, in der Öffentlichkeit und sein ganz unbürgerlicher, volksnaher Verkehr mit den einfachen Leuten gleich wel­cher Herkunft und welchen Berufs und welcher Religion finden die Mißbilligung gerade der jüdischen Zeitgenos­sen, die auf die bürgerliche Verbesserung der Juden ge­setzt hatten. Maimon ist der unbürgerliche Jude Berlins