Vorwort
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terstücke, als Strategie bestimmen, die Diskursmacht des darwini- stischen, utilitaristischen und positivistischen Wissenschaftsparadigmas, das vom liberalen und fortschrittsoptimistischen Bürgertum geteilt wird, gegenüber dem Autonomieanspruch der Künste im Fin de siede und gegenüber jeglicher Kritik des Fortschrittsoptimismus durchzusetzen und zu bewahren, indem die Protagonisten dieser Kunstrichtungen und ihr Publikum als irrational etikettiert und im Namen einer zur Kunstrichterin erhobenen Psychopathologie gesellschaftlich ausgegrenzt werden. Kultursoziologisch, aber auch biographisch ist an dieser Pathologisierung vor allem des antibürgerlichen l’art pour l’art und der >dekadenten< Künste und Künstler aufschlußreich, daß weitere bürgerliche Werte der Epoche wie Fortschritt, Arbeit, Gesundheit und Familie von Nordau als einem jüdischen Aufsteiger ins Fin-de-siecle-Bürgertum auch in seinen Theaterstücken, Romanen und Zeitungs-Feuilletons verteidigt werden.
Dennoch lassen sich gerade Nordaus politische Äußerungen und Aktionen, seine theoretische Neugier in Sachen Soziologie, seine genauen Beobachtungen und sein Realitätssinn nicht alle über einen solchen Leisten schlagen. Der entscheidende biographische Einschnitt der Dreyfus-Affäre gehört in den Bereich historischer Kontingenz, Nordaus Reaktion darauf, seine Freundschaft mit Herzl und sein Engagement für den Zionismus ebenfalls: Sie sind keine notwendige Folge aus seiner vorherigen »naturwissenschaftlichen Weltanschauung«, obwohl sie dann durch diese geprägt werden. Daher war von der geistesgeschichtlich orientierten Diskursanalyse der Spagat zum rein Lebensgeschichtlichen und seiner detaillierten Chronologie notwendig.
Die Spannung zwischen diesen beiden Ansprüchen und den jeweils durch sie erzwungenen Änderungen in Stilebene und Schreibweise meiner Studie habe ich dadurch aufzulösen versucht, daß ich die einzelnen Kapitel dieser Schrift, die bestimmte Lebensabschnitte Nordaus markieren, nach Möglichkeit in kleinere, einander abwechselnde biographische und werkanalytische Abschnitte unterteilt habe. Dabei folgt meine Darstellung im großen und ganzen der Biographie, während dagegen etwa die diachrone Verfolgung einer bestimmten Denkfigur oder Thematik durch bestimmte Werke oder ganze Lebensabschnitte zurücktritt. Das