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Psychopathologie des Fin de siècle : der Kulturkritiker, Arzt und Zionist Max Nordau / Christoph Schulte
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Meine Selbstbiographie

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sehen Studien oblag, mußte ich anfangen, für mich und die Mei­nen Erwerb zu suchen, und fand ihn zuerst in der Redaktion von kleinen Blättern, dann aber, von meinem achtzehnten Jahre an, beim >Pester Lloyd<. Im Frühling 1873 verließ ich Budapest.

Viele Jahre habe ich in meinem jetzigen Wohnort, Paris, keine Berührung mit dem Judentum gehabt, und das einzige Band, das mich noch mit meinen Brüdern verknüpfte, war außer meiner frommen Mutter, der >Jichus< meiner Familie, auf den ich sehr stolz war und, ich bekenne es, geblieben bin. Erst das Anwachsen des Antisemitismus weckte in mir das Bewußtsein meiner Pf lich­ten gegenüber meinem Volke und die Initiative fiel meinem teuren Freunde Herzl zu, zu dem ich in Paris in sehr nahe Beziehungen trat. Er wies mir den Weg zur Erfüllung meiner Pflichten gegenüber meinem Volke.

Ich hoffe von ganzer Seele, daß der Zionismus dem jüdischen Volke seine Erlösung bringen wird. Mir hat er schon das Bewußt­sein gegeben, daß mein Leben einen Zweck und einen Inhalt hat, und in dieser Zeit moralischer Schwäche und Anarchie ist das ein genügend wertvoller Besitz, um jede Anstrengung zu lohnen und für alle Niedertracht bedenkenfreier Feinde zu entschädigen.

Paris, den 2. Juli 1909 .«

Max Nordau erstattet Bericht über sein Leben. 1 Anläßlich seines 60. Geburtstages. Auf nur wenigen Seiten, einige Anekdoten und Abschweifungen inklusive. Dies ist noch keine Lebensbilanz, si­cherlich keine Summe. Auch kein Heldenleben. Eher gleicht dieser kurze Text einem der ungezählten Feuilletons, die Max Nordaus Feder entstammen (jawohl, der Feder: er schrieb sein Leben lang

1 »Meine Selbstbiographie«, in: Max Nordau, Zionistische Schriften, Köln 1909, S. 484-486. Zur Kenntnis der Biographie Nordaus ist trotz vieler Ungenau­igkeiten bis heute unentbehrlich: Anna Nordau, Max Nordau. Erinnerungen er­zählt von ihm selbst und von der Gefährtin seines Lebens, übers, v. S. O. Fangor, Leipzig/Wien 1928. Das französische Original dieses Textes, der von Nordaus Witwe Anna Nordau unter Zuhilfenahme von Nordaus Briefen (soweit erhalten) und anderen persönlichen Unterlagen verfaßt und von seiner Tochter Maxa Nordau um eine ausführliche, aber unkritische intellektuelle Würdigung ergänzt wurde, erschien unter ihrem Namen und unter dem Titel Max Nordau. Lhomme-le penseur-le sioniste 1948 in Paris.