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Psychopathologie des Fin de siècle : der Kulturkritiker, Arzt und Zionist Max Nordau / Christoph Schulte
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Jugendjahre in Pest

risch zur offiziellen Behörden- und Schulsprache erklärt. An den beiden deutschsprachigen Gymnasien in Pest wurden die deutsch­sprachigen Lehrer verdrängt oder entlassen. Nordau hat das alles direkt miterlebt.

Viele Juden vollziehen die Magyarisierung des öffentlichen Le­bens sehr bereitwillig mit. Denn die Juden genossen im nunmehr unabhängigen Ungarn größere staatsbürgerliche Freiheiten als die Juden aller Nachbarstaaten in Osteuropa und hatten soziale Auf­stiegschancen wie sonst nur die Juden Westeuropas. In einer Art Überassimilierung ans Magyarentum konnte das im Extrem zur Taufe oder aber zu einem jüdisch-ungarischen Chauvinismus füh­ren, der Nordau, wie er wiederholt äußert, anekelte:

»Ich war entsetzt (...) über die Zahl der Heuchler dort, Deut­sche, die Vorgaben, nicht deutsch zu sprechen, sondern sich an­biederten, Ungarn zu sein, und sich dabei für eine Lüge hergaben, eine nationale Lüge. Kein Deutscher kann in Pest leben, ohne diese Lüge zu leben. Sie befinden sich im Salon einer deutschen Familie. Jedermann spricht deutsch. Da wird plötzlich irgendein Ungar angekündigt. Und jeder gibt vor, Ungar zu sein, und spricht ungarisch. Es hat mich krank gemacht .« 20

Die nunmehr magyarisierten Juden blieben gleichwohl in den freien und akademischen Berufen dominant. So erklärt sich die Tatsache, daß etwa noch im Jahr 1910 ganze 42% der ungarischen Journalisten Juden waren. 21 Trotz und wegen der raschen Magyari­sierung der Juden kam es schon 1867, als durch den sogenannten »Ausgleich« die legale und politische Emanzipation der Juden durchgesetzt wurde, zu den ersten starken antisemitischen Äuße­rungen und Vorfällen, die ab 1875, dem Geburtsjahr des organisier­ten politischen Antisemitismus in Ungarn, zur Normalität in Uni­versität und Parlament werden. Entgegen diesem Antisemitismus wollten viele ungarische Juden die >besseren< Magyaren sein, so wie zeitgleich in Deutschland viele deutsche Juden die >besseren< Deut­schen sein wollten. Hier eine Analogie zwischen den verspäteten Nationen Ungarn und Deutschland zu sehen, liegt nahe: Ein wegen

20 So ein hier von mir übersetztes, im Original englisches Zitat Nordaus im Interview mit R. H. Sherard, in: The Idler, IX (February 1896), S. 16f.

21 Vgl. Michael Silver, A Jewish Minority, S. 12.