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Jugendjahre in Pest
risch zur offiziellen Behörden- und Schulsprache erklärt. An den beiden deutschsprachigen Gymnasien in Pest wurden die deutschsprachigen Lehrer verdrängt oder entlassen. Nordau hat das alles direkt miterlebt.
Viele Juden vollziehen die Magyarisierung des öffentlichen Lebens sehr bereitwillig mit. Denn die Juden genossen im nunmehr unabhängigen Ungarn größere staatsbürgerliche Freiheiten als die Juden aller Nachbarstaaten in Osteuropa und hatten soziale Aufstiegschancen wie sonst nur die Juden Westeuropas. In einer Art Überassimilierung ans Magyarentum konnte das im Extrem zur Taufe oder aber zu einem jüdisch-ungarischen Chauvinismus führen, der Nordau, wie er wiederholt äußert, anekelte:
»Ich war entsetzt (...) über die Zahl der Heuchler dort, Deutsche, die Vorgaben, nicht deutsch zu sprechen, sondern sich anbiederten, Ungarn zu sein, und sich dabei für eine Lüge hergaben, eine nationale Lüge. Kein Deutscher kann in Pest leben, ohne diese Lüge zu leben. Sie befinden sich im Salon einer deutschen Familie. Jedermann spricht deutsch. Da wird plötzlich irgendein Ungar angekündigt. Und jeder gibt vor, Ungar zu sein, und spricht ungarisch. Es hat mich krank gemacht .« 20
Die nunmehr magyarisierten Juden blieben gleichwohl in den freien und akademischen Berufen dominant. So erklärt sich die Tatsache, daß etwa noch im Jahr 1910 ganze 42% der ungarischen Journalisten Juden waren. 21 Trotz und wegen der raschen Magyarisierung der Juden kam es schon 1867, als durch den sogenannten »Ausgleich« die legale und politische Emanzipation der Juden durchgesetzt wurde, zu den ersten starken antisemitischen Äußerungen und Vorfällen, die ab 1875, dem Geburtsjahr des organisierten politischen Antisemitismus in Ungarn, zur Normalität in Universität und Parlament werden. Entgegen diesem Antisemitismus wollten viele ungarische Juden die >besseren< Magyaren sein, so wie zeitgleich in Deutschland viele deutsche Juden die >besseren< Deutschen sein wollten. Hier eine Analogie zwischen den verspäteten Nationen Ungarn und Deutschland zu sehen, liegt nahe: Ein wegen
20 So ein hier von mir übersetztes, im Original englisches Zitat Nordaus im Interview mit R. H. Sherard, in: The Idler, IX (February 1896), S. 16f.
21 Vgl. Michael Silver, A Jewish Minority, S. 12.