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Psychopathologie des Fin de siècle : der Kulturkritiker, Arzt und Zionist Max Nordau / Christoph Schulte
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Jugendjahre in Pest

damals seine Herzensvertraute ist, ganz anders dar als in den har­monisierenden eigenen Lebensdarstellungen später Jahre: Der Va­ter ist ein bequem gewordener alter Mann, in seiner Aufklärung inkonsequent auf halbem Wege zwischen Schulchan Aruch und Moderne stehengeblieben. Er hält ohne Überzeugung, mehr aus Gewohnheit, an religiösen Gebräuchen fest, ohne neuere wissen­schaftliche Erkenntnisse zu berücksichtigen. Über das Jiddisch des alten Rabbiners Südfeld, dessen sich sein Sohn mit Absicht nicht mehr bedient, mokiert Nordau sich. Es ärgert ihn, daß sein Vater, verarmt und veraltet wie er ist, alle familiäre und religiöse Autorität gegenüber einem Sohn beansprucht, der seinerseits in diesen jun­gen Jahren schon den arbeitslosen Vater und die Familie ernährt, zugleich aber immer noch zum widerspruchslosen Gehorsam ver­pflichtet sein soll.

Vom Judentum bleiben Nordau, wie der Brief beschreibt, nur noch höchst zweideutige, teils sentimentale, teils widerwärtige Ju­genderinnerungen. Dieser geübte, schon ganz stilsichere, bei allem nostalgischen Kitsch literarisch beinahe ausgefeilte Brief eines Achtzehnjährigen enthält aber viel mehr: Er umreißt in wenigen Zeilen die Absichten und Motive einer ganzen Generation, die Gründe des Sprungs aus der religiösen jüdischen Orthodoxie des Stetl, aus verachteter ärmlicher Herkunft, aus elterlicher Bigotterie und Halbaufklärung kopfüber in die Moderne, in den bekenntnis­haften Unglauben und in die Ästhetik als bürgerliche Ersatzre­ligion. Ein Sprung, bei dem die Gefühlswelt nie ganz mitkommt. Und zugleich umreißt der Brief die, wie wir heute wissen, im Fall von Nordau berechtigte Skepsis hinsichtlich des Gelingens dieses Sprungs: Er wird zeitlebens sein damals unerwünschtes Judesein nicht los und er wird später eine Facette von Judentum, den Zionis­mus, ganz lautstark ergreifen. Sein Jahrzehnte währender Einsatz fürs Schöne, Wahre und Gute wird nicht dazu führen, daß die Nichtjuden seine jüdische Herkunft zu übersehen bereit sind. Un­geheuer dramatisch ist in diesem bekenntnishaften Jugendbrief, ge­schrieben bezeichnenderweise anläßlich des höchsten jüdischen Feiertages, die ganze Problematik der Assimilation angedeutet, ge­ahnt, erfühlt und vorweggenommen.