Exodus aus dem Judentum
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»Liebste Lotti!
(...) Jetzt Lotti, ist ein Monat im Jahre, der mich trotz allen Atheismus und trotz aller Skepsis ganz eigen berührt. Jetzt bläst man Schoifer und geht man zu Selichoth, und betet, und die Juden weinen und wollen sich reinigen vor dem Herrn der Heerscharen. Denkst Du noch, wie wir früher um V24 Uhr auf getrommelt wurden? Da gingen wir, schlaftrunken, in die kühle Nacht hinaus, anfangs war die Straße ganz menschenleer, wie wir aber weitergingen, öffnete sich hier ein Thor und dort eines, und heraus schlüpften andere Judengestalten und, ein immer ansehnlicheres Häufchen, gingen wir in den Tempel. Dort war’s warm und hell, und das machte mich immer sehr schläfrig, so daß ich auch meistens die Augen geschlossen hatte und nur im Halbschlafe hörte, wie der Chasan sang und die Juden sich die Brust schlugen und sich schüttelten und schrien >Aus dunkeln Tiefen rufen wir, Dich, Herr des Lichts!< und wie die Weiber oben weinten! Dann wurde ich plötzlich von Vater durch einen Stoß ermuntert, schlaftrunken öffnete ich die Augen, und sah die vielen Kerzen mit einem bleichen Hof umgeben, und die Fenster waren schon etwas erhellt, aber die Buchstaben, jüdisch und sonderbar geformt, tanzten vor den geblendeten Blicken und ich konnte nicht beten. Dann, um halb sechs Uhr, gingen wir hinüber in den polnischen Tempel, um dort bis V28 zu bleiben. - Das war so vierzehn Tage lang und indessen wurde ich bleich und bekam blaue Ringe um die Augen und magerte ab. Das ist dann später Alles anders worden. Wir gingen zwar zu Selichoth, aber in den Ofer Tempel, und da war’s vornehm und occidentalisch, und man begann erst um V26 Uhr, was dem Papa sehr angenehm war, weil er noch »e Schloifele machen « konnte. Glaub’ mir, das war poetisch und schön, wenn ich auch ungerne früh aufstand, - und später gefiel’s mir nicht, weil ich mir kein Selichothgehen vorstellen konnte, ohne ganz frühes Aufstehen, am liebsten um 3 Uhr. - Denkst Du noch, der Vater hat ijnmer gesagt, er geht darum nicht >zu Poljen< Selichothsagen, weil sein Gebetbuch nicht nach den dortigen, andere nach den deutschen >Minhogim< (Gebräuchen) eingerichtet sei. Damals glaubte ich dies, heute weiß ich’s besser, das war nicht wahr, sondern bei >Poljen< fing man um eine halbe Stunde früher als in der >Schul< im Orczy’schen Haus an, und da