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Psychopathologie des Fin de siècle : der Kulturkritiker, Arzt und Zionist Max Nordau / Christoph Schulte
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Exodus aus dem Judentum

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»Liebste Lotti!

(...) Jetzt Lotti, ist ein Monat im Jahre, der mich trotz allen Atheismus und trotz aller Skepsis ganz eigen berührt. Jetzt bläst man Schoifer und geht man zu Selichoth, und betet, und die Ju­den weinen und wollen sich reinigen vor dem Herrn der Heer­scharen. Denkst Du noch, wie wir früher um V24 Uhr auf getrom­melt wurden? Da gingen wir, schlaftrunken, in die kühle Nacht hinaus, anfangs war die Straße ganz menschenleer, wie wir aber weitergingen, öffnete sich hier ein Thor und dort eines, und her­aus schlüpften andere Judengestalten und, ein immer ansehn­licheres Häufchen, gingen wir in den Tempel. Dort wars warm und hell, und das machte mich immer sehr schläfrig, so daß ich auch meistens die Augen geschlossen hatte und nur im Halb­schlafe hörte, wie der Chasan sang und die Juden sich die Brust schlugen und sich schüttelten und schrien >Aus dunkeln Tiefen rufen wir, Dich, Herr des Lichts!< und wie die Weiber oben wein­ten! Dann wurde ich plötzlich von Vater durch einen Stoß er­muntert, schlaftrunken öffnete ich die Augen, und sah die vielen Kerzen mit einem bleichen Hof umgeben, und die Fenster waren schon etwas erhellt, aber die Buchstaben, jüdisch und sonderbar geformt, tanzten vor den geblendeten Blicken und ich konnte nicht beten. Dann, um halb sechs Uhr, gingen wir hinüber in den polnischen Tempel, um dort bis V28 zu bleiben. - Das war so vier­zehn Tage lang und indessen wurde ich bleich und bekam blaue Ringe um die Augen und magerte ab. Das ist dann später Alles anders worden. Wir gingen zwar zu Selichoth, aber in den Ofer Tempel, und da wars vornehm und occidentalisch, und man be­gann erst um V26 Uhr, was dem Papa sehr angenehm war, weil er noch »e Schloifele machen « konnte. Glaub mir, das war poe­tisch und schön, wenn ich auch ungerne früh aufstand, - und später gefiels mir nicht, weil ich mir kein Selichothgehen vorstel­len konnte, ohne ganz frühes Aufstehen, am liebsten um 3 Uhr. - Denkst Du noch, der Vater hat ijnmer gesagt, er geht darum nicht >zu Poljen< Selichothsagen, weil sein Gebetbuch nicht nach den dortigen, andere nach den deutschen >Minhogim< (Gebräuchen) eingerichtet sei. Damals glaubte ich dies, heute weiß ichs besser, das war nicht wahr, sondern bei >Poljen< fing man um eine halbe Stunde früher als in der >Schul< im Orczyschen Haus an, und da