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Psychopathologie des Fin de siècle : der Kulturkritiker, Arzt und Zionist Max Nordau / Christoph Schulte
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Jugendjahre in Pest

dachte sich der Vater: >Fromm sein muß man doch, worum, es steht geschrieben. Aber schlafen muß man auch, von der Natur, weil es die Naturgeschichte und die Physikum nach allen Prinzi- pii sagt, weißt Du den nicht: (...) ardet vel non ardes?< Also ging er zu Selichoth ins Orczysche Haus, und zu Schachrith zu >Pol- jen<, - spekuliert muß einmal sein!

Aberdenk Dir nur was es für ein Unsinn war, mich, einen 6-10 jährigen Knaben, um den dem Kinde so nöthigen Schlaf zu brin­gen, und mich aufzujagen! Macht aber nichts, ich wollte, der 18 jährige Max Nordau könnte mit dem siebenjährigen Simchale tauschen, ich weiß, ich wäre zu achtzehn Jahren dann mal anders als jetzt! Damals schmückte meine ungeheuer lebhafte Phanta­sie diese Selichothmorgen so geheimnisvoll und mährchenhaft aus, und ich glaubte nicht anders, ich trete gerade vor den hoch oben über uns thronenden Gott Zebaoth hin, um eine versündete böse Welt rein waschen zu helfen, und heute - heute glaube ich nichts, als daß ein Rostbraten sehr gut ist, besonders mit geröste­ten Zwiebeln und Kartoffelscheiben garniert. Doch ich will mir nicht selbst unnöthigerweise Unrecht thun, ich glaube noch im­mer, und zwar an Schöneres und Erhabeneres als damals, ich glaube an die Liebe, an die Tugend, an die Macht der wahren Schönheit, nur wollte ich, weitere zehn Jahre brächten mich nicht um diesen Glauben, wie frühere zehn fahre mich um den Gottesglauben so völlig betrogen. (...)

Dein Simi« 29

Hauslehrer, Journalist, Medizinstudent

Der Jom Kippur-Brief von 1867 ist Teil des ersten erhaltenen, bis­lang unveröffentlichten Briefwechsels von Nordau. Die Briefe fin­den sich im Zionistischen Zentralarchiv in Jerusalem. Sie wurden

29 Brief Nordau - Charlotte Südfeld, 5.9.1867, ZZA A119/13. Dieser Brief ist, an einigen Stellen falsch transkribiert und in der Literatur fast unbeachtet, ent­halten in: Anna Nordau, Max Nordau. Erinnerungen, S. 36-38.