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Psychopathologie des Fin de siècle : der Kulturkritiker, Arzt und Zionist Max Nordau / Christoph Schulte
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Jugendjahre in Pest

zige, der in späteren Jahren seiner Schwester eine Aussteuer hätte stellen können. Anscheinend hat er das nicht getan, und wir dürfen uns fragen, ob er damit seiner Weltanschauung, das Aussteuer-Un­wesen zu ächten, treu blieb oder ob die Weltanschauung nur die Weigerung rationalisierte, eine hohe Summe seiner hart erarbeite­ten Ersparnisse als Aussteuer für die Schwester in den Wind zu schreiben.

Charlotte Südfeld lebte, abgesehen von seinen Reisen, bis zu sei­nem Tod mit Max Nordau unter einem Dach. Selbst noch nach seiner Heirat führte sie eine Art gehobenes Haushälterinnen-Da- sein in finanzieller Abhängigkeit vom Bruder, denn einen Beruf hat sie nie ausgeübt. Und Nordau läßt sie diese Abhängigkeit oft spü­ren, er betont seinen Ernährer-Status in seinen Briefen auffallend häufig. Sie, die im Herbst 1938 in einem Altersheim in Nancy starb, 44 ist die eigentliche Gefährtin von Nordaus Leben. Sie hat bis an sein Lebensende dem Bruder aufgewartet, ihm und ihrer Mutter bis zu seiner späten Heirat den Haushalt organisiert, Gäste emp­fangen, die Korrespondenz überwacht und später als »Tante Lotti« sogar die (Stief-) Kinder gehütet, während der intellektuelle und auch der gefühlsmäßige Abstand zum Bruder seit jenem Jahr des intensiven, teils vertraulichen, teils platonisch-erotischen Brief­wechsels von Räkos-Keresztur ständig nur wuchs.

Nordau bestand im Spätherbst 1867 die Matura, immatrikulierte sich an der Pester Universität und wurde tatsächlich sofort, wie er­hofft, im Alter von achtzehn Jahren Redaktionsmitglied des Pester Lloyd. 45 Daß er sich in der medizinischen Fakultät einschreiben würde, hatte sich zuvor nicht angedeutet. Medizin und Jura waren die beiden >typisch jüdischem Studienfächer an der Universität, denn beide befähigten zu freien Berufen, in denen sich die beste­hende staatliche und ständische Diskriminierung von Juden einfa­cher umgehen ließ. So wurden Herzl und Kafka Juristen, Nordau und Freud Mediziner. Vor allem anderen brauchte Max Nordau einen Brotberuf. Zu dem nichtakademischen Brotberuf des fest an- gestellten Journalisten wählte er nun einen akademischen.

Sicherlich reizte ihn nicht zuletzt die naturwissenschaftliche

44 Angabe von Mme. Maxa Nordau-Gruenblat, Juli 1990.

45 Vgl. Nordaus Interview in: The Idler, IX (February 1896), S. 16.