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Psychopathologie des Fin de siècle : der Kulturkritiker, Arzt und Zionist Max Nordau / Christoph Schulte
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Hauslehrer, Journalist, Medizinstudent

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Seite der Medizin. Die Medizin versprach, wenn einem jungen Arzt große Entdeckungen gelangen, Ruhm und gutes Einkommen, viel­leicht eine universitäre Karriere. Überdies waren die Berufsaussich­ten eines Arztes, auch eines jüdischen Arztes, in Pest außerordent­lich günstig. Denn aufgrund der schnellen Industrialisierung und des großen Bevölkerungszuwachses von Pest herrschte ein gravie­render Ärztemangel. 1858 gab es in Pest ganze 224 Ärzte für eine explosionsartig wachsende Stadt mit beinahe 200000 Einwoh­nern. 47 Zehn Jahre später waren die Hygiene- und Wohnverhält­nisse kaum besser, aber die Stadt hatte fast 280000 Einwohner. Vielleicht war jedoch für die Wahl des Medizinstudiums gerade entscheidend, daß Nordau als Arzt potenziell überall praktizieren konnte, während er als Jurist trotz seiner Neigungen zum Deut­schen an das österreichisch-ungarische Rechtssystem, sprich die k.u.k. Monarchie, gebunden gewesen wäre.

Wie gesagt, Nordau gibt über die Motive für seine Wahl des Medizinstudiums selbst keine Auskünfte. Gleiches gilt für seine Studienzeit in Pest. Er muß enorm hart gearbeitet haben, denn er studierte tagsüber und schrieb spätabends für die Zeitung. Nur zu verständlich, daß ihm, anders als dem gutbehüteten und wohlha­benden Herzl zehn Jahre später, keine Zeit für ein lustiges Studen­tenleben blieb. Die Abende waren Arbeitszeit. Auch, ob er in einer Burschenschaft oder studentischen Verbindung war, ist unbe­kannt, denn er hat später aus dieser Zeit keine Studienfreunde mehr genannt, vielleicht auch nicht mehr kennen wollen. Wir wis­sen nur, daß 1872 sein Vater starb und er dadurch endgültig zum alleinverantwortlichen Ernährer von Mutter und Schwester wurde. Das fiel ihm übrigens nicht mehr schwer, denn schon in den letz­ten Lebensjahren des Vaters verdiente er als erfolgreicher, festan­gestellter Redakteur im Feuilleton der angesehensten deutschspra­chigen Zeitung Ungarns 200 Gulden im Monat. Im Vergleich zum Luftmenschen-Dasein davor ermöglichte dies geradezu ein Leben in Luxus. 48 1873, nach sechs Jahren Doppelleben als Journalist und Medizinstudent, hat Nordau ausstudiert. Er trägt den Doktor­titel der Medizin und hat über die Jahre sogar genug Geld gespart, um das nachzuholen, was den Adligen und Großbürgersöhnen

47 Andrew Händler, Dorf, S. 19.

48 Vgl. Interview Nordaus in: The Idler, IX (February 1896), S. 16.