Druckschrift 
Psychopathologie des Fin de siècle : der Kulturkritiker, Arzt und Zionist Max Nordau / Christoph Schulte
Seite
58
Einzelbild herunterladen

58

Wanderjahre

einem für seine Verhältnisse luxuriösen Hotel, ißt fürstlich und natürlich nicht koscher - was er seiner Schwester mit großer De­tailfreude und unter Aufzählung der Gänge beschreibt. Opulentes Essen wird nach all den Hungerleider-Jahren der Jugend eine Ob­session Nordaus und spielt im Briefwechsel mit der Schwester noch für Jahre eine Rolle. Denn sie kannte die Verhältnisse vorher und kann die Obsession verstehen. Lotti liest in Pest die Feuille­tons Nordaus im Lloyd und bewahrt sie, auch für ihn, auf. Er be­schreibt die Pavillons der verschiedenen Nationen auf der Welt­ausstellung ebenso wie die Feste und Empfänge der gekrönten und ungekrönten Häupter aus der großen Welt, die Wien besuchen. Eine journalistische Tätigkeit zwischen den Extremen von Sozial­reportage und Hofberichterstattung. Seine Feuilletons machen bei Dr. Falk »Eclat« 5 und bei Lotti riesigen Eindruck. Aber, so korri­giert er teils kalt sachlich, teils sarkastisch die Schwärmereien sei­ner Schwester, bei Hofe in Wien lese man die Alte und die Neue Freie Presse, die Wiener Hauptstadtblätter, in denen »die ersten Fachgelehrten und Schriftsteller Deutschlands (!)« schreiben, nicht den Pester Lloyd. Der sei, so die Selbsteinschätzung des kar­rierebewußten jungen Journalisten, ein »Provinzblatt«. 6 Auf dem Höhepunkt seiner bisherigen Berufskarriere, angestellt beim be­deutendsten deutschsprachigen Blatt Ungarns, weiß hier einer schon, daß er höher hinaus will. Raus aus der Provinz.

Zunächst will er Wien und die große Welt auch seiner Mutter zeigen, die nie dort war. Er läßt sie allein Mitte Juni nach Wien kommen. Dieser Besuch wird eine herbe Enttäuschung und ein Schlüsselerlebnis. Die Realität dieses Besuchs ist viel schlimmer als die Szenen in Nordaus halb-autobiographischem Theaterstück Die Kugel von 1894, in dem er jene Erlebnisse verarbeitet. Dort ist die »Kugel« die verwitwete Mutter eines promovierten, ehrgeizigen jungen Rechtsanwalts, der sich renommistisch in der Stadt nieder­läßt, aber dort von seinem peinlich provinziellen Herkunftsmilieu in Gestalt seiner Dialekt sprechenden Mutter wieder eingeholt wird. Beschämenderes ereignet sich über zwanzig Jahre zuvor im allzu wirklichen Wien.

5 Brief Nordau - Charlotte Südfeld, Wien, 18.5.1873, ZZAA 119/14.

6 Brief Nordau- Charlotte Südfeld, Wien, 9.7.1873, ZZAA 119/14.