Druckschrift 
Psychopathologie des Fin de siècle : der Kulturkritiker, Arzt und Zionist Max Nordau / Christoph Schulte
Seite
61
Einzelbild herunterladen

Berlin

61

Berlin

Nach zwei Tagen Bahnfahrt über Passau und Nürnberg nimmt Nordau am 17. November 1873, einem Montag, zunächst in Darm­stadt Quartier. Eine Zwischenstation, denn von hier aus wird er auf Tagesreisen Frankfurt, Wiesbaden, Mainz, Bad Homburg und Hei­delberg besuchen, bevor er sich als reisender Korrespondent der Wiener Tageszeitung Neue Freie Presse in Berlin einfindet. An­scheinend hat er diese Position erst kurz vor Reiseantritt ergattert, denn die offizielle, gedruckte Beglaubigungskarte wird ihm erst An­fang Dezember nach Berlin nachgeschickt. Für den Pester Lloyd will er nun nicht mehr arbeiten, denn die Arbeit für die Neue Freie Presse oder für die Berliner Blätter wird nicht nur besser bezahlt, sie verspricht auch mehr Prestige. Außerdem will er die Pester Pro­vinz doch hinter sich lassen. Aus Berlin wird er schreiben: » Und an Ungarn liegt mir in diesem Augenblicke doch weniger als an den hiesigen Kreisen .« 17

Die ersten Eindrücke vom Traumland Deutschland sind ernüch­ternd. Alles ist teurer als in Pest, gar als in Wien. »Die Leute sind ganz allgemein Hungerleider und essen höchstens zweimal in der Woche Fleisch. Brod ist so schwarz wie Erde. Was bessere Leute sind, essen Buttersemmeln, die aber auch nichts taugen. « 18 Die Kriegsreparationen aus Frankreich haben nicht nur die Konjunktur angeheizt, sondern auch die Inflation. Das ist beileibe nicht die ein­zige Folge des Deutsch-Französischen Kriegs, die Nordau sofort anmerkt. Von Darmstadt bis zum Rhein sind es nur zwei Meilen, wie er an Lotti schreibt, »da hat Deutschland - trotz 1871 - ein Ende«. Nordau, hierin bleibt er sich bis zum Ersten Weltkrieg treu, hat die deutsche Annexion von Elsaß-Lothringen nie anerkannt. Er hat sie vielmehr als das zentrale Motiv aller Revanche-Rufe, als den Kern fortdauernder deutsch-französischer Feindschaft und als möglichen Kriegsgrund permanent angeprangert.

Am 1. Dezember logiert Nordau sich in Berlin ein, Schöneberg­straße 33, Berlin S. W. Dies wird sein längster Aufenthalt in Berlin sein. Abgesehen von drei Wochen in Rußland wird er von Dezem-

17 Brief Nordau - Charlotte Südfeld, Berlin, 8.12.1873, ZZA A 119/14.

18 Brief Nordau - Charlotte Südfeld, Darmstadt, 23.11.1873, ZZA A119/14.