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Psychopathologie des Fin de siècle : der Kulturkritiker, Arzt und Zionist Max Nordau / Christoph Schulte
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Wanderjahre

ber bis Ende März dauern und für Nordaus weitere Lebensperspek­tiven prägend sein. Noch fast 20 Jahre später hegt er den Plan, mit einer ausreichenden Rente als freischaffender deutscher Schrift­steller in Berlin zu wirken. Entscheidend dafür sind die persön­lichen Begegnungen, die sich ergeben, als er in Berlin schon ab dem 2. Dezember ganz systematisch Besuche zu machen beginnt. Er trifft Vertreter der Politik wie den Mitbegründer und Reichs­tagsabgeordneten der Nationalliberalen Partei, Eduard Lasker (1829-1884), der später von Bismarck zu einem seiner Intimfeinde erkoren werden sollte: »Er ist (...) Führer einer großen Reichs­tagspartei, übrigens ein kleines, schlichtes Jüdlein.« 19 Vor allem jedoch findet Nordau sofort Zugang zu Journalisten- und Schrift­stellerkreisen.

Auf einer Soiree bei Julius Rodenberg lernt er Berthold Auerbach (1812-1882) kennen 20 , in diesen Jahren unbestritten der erfolg­reichste und bekannteste jüdische Schriftsteller Deutschlands, einer, der, wie Nordau schon nach dem ersten Treffen vermerkt, sein Judentum nicht verhehlt. Mit Gustav Freytag, der in Leipzig, und Paul Heyse, der in München lebt, muß Auerbach nach Ansicht Nordaus als einer der ganz Großen der zeitgenössischen deutschen Literatur gelten. Und dieses literarische Deutschland will Nordau nach Möglichkeit persönlich kennenlernen. Bei Auerbach gelingt ihm das unerwartet einfach, denn dieser lädt ihn sofort zu einer zwanglosen Soiree »ohne Frack« nach Hause ein. Nordau wird während seines Berliner Aufenthalts ein ständiger Gast des jour fixe im Hause Auerbach und lernt dort alle kennen, die im literari­schen Berlin Rang und Namen haben.

»Er fragte mich zunächst nach meiner Biographie aus, die ich in fünf Worten abthat. In dieser Umgebung kann ich mich mit meinen bisherigen Thaten und Erfolge[!] nicht rühmen.« 21 So schildert Nordau Lotti das erste nähere Gespräch mit Auerbach. Dessen Urbanität, Gastfreundlichkeit und unaffektierte Natürlich­keit beeindrucken den jungen Journalisten und bewegen ihn, den

19 Brief Nordau-Charlotte Südfeld, Berlin, 2.12.1873, ZZA A119/14.

20 Brief Nordau - Charlotte Südfeld, Berlin, 6.12.1873, ZZA A119/14.

21 Brief Nordau - Charlotte Südfeld, Berlin, 12.12.1873, ZZA A 119/14; Un­terstreichung im Original.