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Psychopathologie des Fin de siècle : der Kulturkritiker, Arzt und Zionist Max Nordau / Christoph Schulte
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Berlin

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Kontakt weiterhin zu suchen, obwohl er sich, zumindest anfangs, auf Auerbachs jour fixe langweilt. »Im A llgemeinen wurde ich(...) gar nicht beachtet, wir mußten erst längere Zeit mit den einzelnen Leuten sprechen, damit man uns überhaupt Aufmerksamkeit schenke. Gräme dich nicht darüber, das kann nicht anders sein, wenn man als Mensch ohne Namen irgendwo hinkommt. Nach wenigen Jahren schon, hoff ich, soll das anders sein .« 22

Augenscheinlich beeindruckt es Nordau, daß der Autor, den seine Schwarzwälder Dorfgeschichten (4 Bde., 1843-1853) popu­lär gemacht hatten, sich vom renommiersüchtigen Gehabe und Ge­triebe der jungen Reichshauptstadt Berlin überhaupt nicht anstek- ken läßt. Trotz Ruhm und öffentlicher Anerkennung verkörpert Auerbach gegenüber den Salon-Literaten noch die Bodenständig­keit seiner literarischen Figuren, seiner Themen und seiner Her­kunft. Daß Auerbach sich seinen Wohlstand allein erschrieben habe, notiert Nordau nicht nur 1873, er wird es 20 Jahre später, auf dem Höhepunkt seiner Polemik gegen die Dekadenz-Literatur, für sich selbst, seine moralische Gesundheit und bürgerliche Wohlan­ständigkeit in Anspruch nehmen. 23 In der Einheit von Leben und Werk Auerbachs ist in Nordaus Augen, lange bevor er selbst solche Unterscheidungen trifft, das leuchtende Beispiel einer nicht-deka­denten, bürgerlichen Künstler-Existenz gegeben.

Ganz anders ist Nordaus Umgang mit dem Salonlöwen Julius Rodenberg (1831-1914), dem Gründer und Herausgeber des Salon für Literatur, Kunst und Gesellschaft, welche nach Ansicht Nord­aus »die erste belletristische Monatsschrift Deutschlands« ist. 24 Mit ihm geht Nordau gegen Mittag Unter den Linden frühstücken oder bei Hiller soupieren. Rodenberg kennt alle und jeden, er vermittelt Nordau, neben der mit Auerbach, die Bekanntschaften mit Fried­rich Spielhagen und Paul Lindau, aber auch mit allerlei kunstsin­nigen Professoren, Rechtsanwälten und Bankiers, auf deren Soi­reen Nordau gesellschaftliche Erfahrung sammelt. Sogar auf einer Reise zu Heyse in München, zu Freiligrath in Stuttgart und zu Put-

22 Brief Nordau - Charlotte Südfeld, Berlin, 16.12.1873, ZZA A 119/14.

23 Brief Nordau - Eugen von Jagow, Paris, 7.3.1893, ZZA A 119/283/114.

24 Brief Nordau - Charlotte Südfeld, Berlin, 10.3.1874; vgl. Brief v. 13.12. 1873, ZZA A 119/15 u 14.