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Psychopathologie des Fin de siècle : der Kulturkritiker, Arzt und Zionist Max Nordau / Christoph Schulte
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Berlin

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neben seiner Tätigkeit als Intendant Theaterstücke, Novellen und Romane verfaßte. Rodenberg, Lindau sowie dem Roman- und Theaterautor Friedrich Spielhagen (1829-1911), mit dem Nordau sich regelrecht anfreundete und den er später oft besuchte, ist ge­meinsam, daß sie alle auch journalistisch tätig waren und somit Journalismus und Schriftstellerei zugleich ausübten. Nordau wird später selbst nach seinen größten Bucherfolgen den Journalismus nicht aufgeben und sich zugleich an so unterschiedlichen Gattun­gen wie Dramen, Romanen, Novellen, Lyrik, Feuilletonsammlun­gen, Kritiken und populärwissenschaftlicher Weltanschauungslite­ratur versuchen.

Die Tätigkeit als Journalist, ob gewollt und geliebt oder nicht, erzwingt indessen eine bestimmte Lebens- und Produktionsweise. Wie jene Berliner Literaten lebt Nordau sein ganzes Leben lang nicht ferne auf dem Lande, wo er in der Einsamkeit und gar unter­stützt von einem Gönner oder staatlichen Subventionen ein >Werk< schafft, sondern in der Welt der Industrie und der Konkurrenz, der Moden und der öffentlichen Meinung, kurz: in der Großstadt. Von seinen ersten Anfängen an verkörpert Nordau den Typus des eigentlich am Schriftsteller-Dasein interessierten, aber vom Jour­nalismus lebenden Großstadt-Autors.

Wie schwer dem sozialen Aufsteiger aus ärmlichsten Verhältnis­sen das Leben in der Metropole, im Schatten ihrer gesellschaft­lichen und literarischen Größen, ihrer Eitelkeiten, Verpflichtungen und bürgerlichen Selbstverständlichkeiten anfangs fällt, schildern Nordaus Briefe an seine Schwester. » Nach dem Essen [am Silve­sterabend] wurde getrunken und geplaudert bis 1 Uhr. Um 1 Uhr begann die fugend zu tanzen und ich schämte mich sehr, daß ich nicht tanzen kann. Wurde auch gehörig dafür ausgelacht und geunkt. Um nicht allzu beschämt zu sein, sagte ich, ich tanze nur - Chärdäsü denke dir!« 29 (...) »Du weißt nicht, was es heißt, gar keine Erziehung zu besitzen und wie ein Bauer aufgewachsen zu sein. So lange man in seiner Stube hinterm Ofen sitzt, merkt man es nicht. Wenn man aber nur einen Schritt in die Fremde thut, fühlt man es bitter. Was nützt Bildung (nämlich Buchgelehrsam­keit) Herz und Verstand? Die Gesellschaft verlangt zunächst,

29 Brief Nordau - Charlotte Südfeld, Berlin, 2.1.1874, ZZA A119/15.