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Psychopathologie des Fin de siècle : der Kulturkritiker, Arzt und Zionist Max Nordau / Christoph Schulte
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Wanderjahre

daß man Mensch der Gesellschaft sei. Jeder von denen, mit denen ich jetzt umgehe, kann irgendein Instrument spielen oder singen oder wenigstens tanzen. Ich kann nichts von Allem. Jeder Mensch hat halb Europa gesehen. Ich kenne bis jetzt nichts als die Tabaksgasse. Sei froh, daß wir ruhig unser Brod essen, wo so viele andere hungern und doch mir wenigstens zwei Jahre lang die Möglichkeit offen ist, zum kleinen Theil das nachzuholen, was ich in der Jugend (ohne meine Schuld) versäumt habe .« 30

Am 9. Januar dann erhält Nordau von Falk das Angebot, für den Fester Lloyd als Korrespondent nach Petersburg zu fahren, wo der österreichische Kaiser Franz-Joseph Mitte Februar dem Zaren einen Staatsbesuch abstatten will. Zunächst zögert Nordau, Falks Angebot anzunehmen, denn er würde aus Prestigegründen lieber für die Neue Freie Presse dorthin fahren. Erst als er auf seine rasche Erkundigung hin erfährt, daß von der Neuen Freien Presse gar ein Redaktionsmitglied nach Petersburg entsandt wird, nimmt er beim Lloyd an und verlangt dieses Mal gleich 400 Gulden Vorschuß von Falk. Der hält ihn nun jedoch seinerseits bis zwei Tage vor der Ab­reise am 8. Februar hin. Dann erst schickt er das Geld und damit die endgültige Zusage des Engagements. 31

Nun, Nordau wäre ohnehin gefahren, auch ohne Falks Geld, aus Neugier. Natürlich beklagt er sich über die hohen Preise in Peters­burg, als er nach einer Bahnfahrt über Königsberg dort angekom­men ist: »Petersburg ist die theuerste Stadt der Welt (...) Selbst das elende Nest Königsberg ist dreimal so theuer wie Pest und selbst Wien.« 32 Aber ansonsten ist erbegeistert. Seine Eindrücke in Petersburg und dann in Moskau sind in seinen Feuilletons geschil­dert, die von ihm nach Pest an den Lloyd geschickt, dort gedruckt und wie gewöhnlich danach von der Schwester Lotti gesammelt, kontrolliert (Sind alle Feuilletons auch tatsächlich, und ungekürzt, gedruckt worden? Steht sein voller Name darunter?) und schließ­lich der des Lesens unkundigen Mutter vorgelesen werden. 33 Die

30 Brief Nordau-Charlotte Südfeld, Berlin, 5.1.1874, ZZAA119/15.

31 Briefe Nordau - Charlotte Südfeld, Berlin, 9. u. 10.1.1874 und Petersburg, 16.2.1874, ZZAA 119/15.

32 Brief Nordau - Charlotte Südfeld, Petersburg, 16.2.1874, ZZA A 119/15.

33 Brief Nordau-Charlotte Südfeld, Berlin, 2.3.1874, ZZA A119/15.