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Psychopathologie des Fin de siècle : der Kulturkritiker, Arzt und Zionist Max Nordau / Christoph Schulte
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Wanderjahre

leisten kann, sich einen Frack schneidern zu lassen und Lack­schuhe zu kaufen. 43

Als Erlebnis von besonderer Bedeutung schildert er, wie er in der berühmten Bibliothek des British Museum, in der, ohne Wissen Nordaus, Karl Marx in genau jenen Jahren fast täglich arbeitete und Das Kapital schrieb, im Katalog auf zwei Bücher seines Vaters stößt.

»Suedfeld (Gabriel) Achusath Mereim u.s.w. (mit hebräischen Buchstaben)

Prag 1825, 80 (...)

Suedfeld (Gabr.) Koheleth u.s.w. Prag 1850, So«. 44

Bezeichnend jedoch auch der Kommentar und die Reaktion des jungen Journalisten und Schriftstellers in spe auf diesen Fund im Bibliotheks-Katalog des British Museum: »Wenn ich einmal ir­gendwo angesiedelt bin, kaufe ich mir diese Kataloge, in denen das Leben eines Menschen doch mindestens eine leise und doch kaum je vergehende Spur zurückgelassen hat.«

Nicht die Bücher seines vor gerade zwei Jahren verstorbenen Va­ters und deren Inhalt interessieren ihn, sondern der Nachruhm des Autors und die Verewigung seiner Spur in einem Katalog, welche über die folgenlose Vergeblichkeit und das spurlose Verschwinden seines Menschenlebens hinweghelfen sollen. Wie so viele Zeitge­nossen im ausgehenden 19. Jahrhundert glaubt der junge Atheist Nordau natürlich nicht mehr an die Auferstehung der Toten oder die Unsterblichkeit der Seele, sondern beschwört statt dessen, ver­meintlich säkular, nur noch die Unvergänglichkeit der Erinnerung an den Toten, die hier mittels eines Bibliothekskatalogs erreicht werden soll. 45 Wer ein Buch geschrieben hat, das in der Bibliothek des British Museum steht, ist auf diese Weise in den Annalen der Menschheit unvergänglich eingetragen. Im Sinne dieser Auffas-

43 Brief Nordau- Charlotte Südfeld, London, 2. u. 4.6.1874, ZZA A119/15.

44 Brief Nordau - Charlotte Südfeld, London, 22.6.1874, ZZA A119/15.

45 Zur totalen Veränderung des Totengedächtnisses in den okzidentalen Ge­sellschaften der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, der Verwandlung von Un­sterblichkeitsglaube in immerwährende, >ewige< Erinnerung, vgl. Philippe Aries, Essais sur lhistoire de la mort en Occident du Moyen Age ä nos jours, Paris 1975, S. 67 ff.; 143 ff.; 177 ff.