78
Wanderjahre
Nachgiebigkeit - ärgert, läßt sich demselben Brief aus Rom entnehmen, in dem er im September 1875 seine Vorstellungen von »anständigem« Essen, Wohnen und Leben ausspinnt. Auf die Wünsche zum jüdischen Neujahrsfest seitens seiner Schwester und Mutter reagiert er gereizt und provozierend. »Hättest [Du] mir nicht genau angegeben, wann die jüdischen Feiertage sind, ich würde es nicht gewußt haben. Ich merke nichts von dergleichen. Es muthet mich sehr drollig an, daß man mir im September Neujahrswünsche sendet und ich merke erst jetzt, was der Unterschied ist zwischen Judenländern und solchen in denen es keine oder nur wenige Juden gibt .« 68
In das »Judenland« Ungarn wird er nun erst einmal von Rom aus zurückkehren. Die Schwester ist, weil das die Bestimmung der Frau sei, zu verheiraten. 69 Nordau selbst denkt nicht ans Heiraten, denn er glaubt nicht an die Langlebigkeit der Kette zum Lloyd, an die er gefesselt bliebe, wenn er wie sein kinderreicher Schwager und Redaktionskollege Anton Deutsch eine Familie zu versorgen hätte. Die Hoffnungen von einigen daheim wartenden, umtriebigen Heiratskandidatinnen, den vielversprechenden, schon ruhmbedeckten Jungjournalisten in den Hafen der (womöglich jüdischen) Ehe lotsen zu können, wird er enttäuschen müssen; so die des Fräulein Susanna Singer (und ihrer Mutter), mit der er augenscheinlich in Wien in schon offiziöser und vielversprechender Weise verkehrt und der er von unterwegs Briefe, ja sogar Abzüge seiner »bartlosen« Londoner Porträtaufnahmen geschickt hatte. 70 Als er Anfang November 1875 über Parma und Venedig heimreist, weiß Nordau nicht, wie lange er es in Pest aushalten wird.
68 Brief Nordau - Charlotte Südfeld, Rom, 30.9.1875, ZZA A 119/16.
69 Brief Nordau - Charlotte Südfeld, Rom, 21.10.1875, ZZA A 119/16.
70 Ebd.; vgl. auch den Brief Albert Sturm - Nordau, Pest, 24.3.1877, ZZA A 119/92/76.