Wahlexil Paris
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Wahlexil Paris
Am 10. November 1875 ist Nordau zurück in Pest. Und er schließt auch wirklich einen Vertrag mit dem Lloyd, gleich am nächsten Tag. Als damit der Broterwerb gesichert ist, unternimmt er sogleich einen Schritt in eine andere Richtung: Er hat das Doktordiplom noch nicht, das ihm formal eine ärztliche Niederlassung ermöglichen würde. Also macht er am 24. Januar 1876, gute zwei Monate nach der Rückkehr, das zweite Rigorosum und erhält am 29. Januar das Diplom der medizinischen Fakultät von Pest. 71
Wieder zwei Tage später, am 31. Januar 1876, kündigt er beim Pester Lloyd, vermutlich weil er unter Hinweis auf seinen neu erworbenen Titel und Beruf eine Gehaltserhöhung auszuhandeln versuchte und abgewiesen wurde. Noch einen Tag später geht er zum direkten Konkurrenzblatt und wird Feuilletonist des Neuen Pester Journal. Und doch ist seines Bleibens in Pest nicht mehr. Pest ist für ihn eine Provinzstadt, obwohl die Stadt etwa 300000 Einwohner hat. Vor allem aber ist sie der Ort, an dem ihn seine ungeliebte Herkunft und Vergangenheit in Gestalt von Klatsch und Intrigen, Verwandtschaft und Kollegen - der verachtete Schwager Anton Deutsch ist deren gesammelte, familiäre Verkörperung - ständig wieder einholt.
Nur unternimmt Nordau dieses Mal keine Reise, um dem zu entkommen. Sondern er emigriert, freiwillig und in ein Exil seiner Wahl. Warum diese Wahl auf Paris fällt, obgleich er den längeren Aufenthalt in Berlin, London oder Madrid während seiner Bildungsreise weit mehr genossen hatte als den in Paris, bleibt unklar. Vielleicht waren die Arbeitsmöglichkeiten für ihn als freischaffenden Journalisten dort am besten, denn er hatte ja keinen festen Korrespondentenposten in Aussicht.
Mit Sicherheit zog ihn der Weltruf der Pariser medizinischen Fakultät und der verschiedenen Hospitäler nach Paris, gerade so wie ein Jahrzehnt später den jungen Dr. Sigmund Freud. Jedenfalls hatte Nordau, wie ein Brief seines Lehrers Professor Lenhossek vom 20. Mai 1876 an ihn nach Paris zeigt, Ambitionen als Mediziner. Er will noch eine medizinische Dissertation schreiben und sich
71 Vgl. Anna Nordau, Max Nordau. Erinnerungen, S. 90f.