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Psychopathologie des Fin de siècle : der Kulturkritiker, Arzt und Zionist Max Nordau / Christoph Schulte
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Wahlexil Paris

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Wahlexil Paris

Am 10. November 1875 ist Nordau zurück in Pest. Und er schließt auch wirklich einen Vertrag mit dem Lloyd, gleich am nächsten Tag. Als damit der Broterwerb gesichert ist, unternimmt er sogleich einen Schritt in eine andere Richtung: Er hat das Doktordiplom noch nicht, das ihm formal eine ärztliche Niederlassung ermög­lichen würde. Also macht er am 24. Januar 1876, gute zwei Monate nach der Rückkehr, das zweite Rigorosum und erhält am 29. Januar das Diplom der medizinischen Fakultät von Pest. 71

Wieder zwei Tage später, am 31. Januar 1876, kündigt er beim Pester Lloyd, vermutlich weil er unter Hinweis auf seinen neu er­worbenen Titel und Beruf eine Gehaltserhöhung auszuhandeln versuchte und abgewiesen wurde. Noch einen Tag später geht er zum direkten Konkurrenzblatt und wird Feuilletonist des Neuen Pester Journal. Und doch ist seines Bleibens in Pest nicht mehr. Pest ist für ihn eine Provinzstadt, obwohl die Stadt etwa 300000 Einwohner hat. Vor allem aber ist sie der Ort, an dem ihn seine ungeliebte Herkunft und Vergangenheit in Gestalt von Klatsch und Intrigen, Verwandtschaft und Kollegen - der verachtete Schwager Anton Deutsch ist deren gesammelte, familiäre Verkörperung - ständig wieder einholt.

Nur unternimmt Nordau dieses Mal keine Reise, um dem zu ent­kommen. Sondern er emigriert, freiwillig und in ein Exil seiner Wahl. Warum diese Wahl auf Paris fällt, obgleich er den längeren Aufenthalt in Berlin, London oder Madrid während seiner Bil­dungsreise weit mehr genossen hatte als den in Paris, bleibt unklar. Vielleicht waren die Arbeitsmöglichkeiten für ihn als freischaffen­den Journalisten dort am besten, denn er hatte ja keinen festen Kor­respondentenposten in Aussicht.

Mit Sicherheit zog ihn der Weltruf der Pariser medizinischen Fa­kultät und der verschiedenen Hospitäler nach Paris, gerade so wie ein Jahrzehnt später den jungen Dr. Sigmund Freud. Jedenfalls hatte Nordau, wie ein Brief seines Lehrers Professor Lenhossek vom 20. Mai 1876 an ihn nach Paris zeigt, Ambitionen als Medizi­ner. Er will noch eine medizinische Dissertation schreiben und sich

71 Vgl. Anna Nordau, Max Nordau. Erinnerungen, S. 90f.