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Psychopathologie des Fin de siècle : der Kulturkritiker, Arzt und Zionist Max Nordau / Christoph Schulte
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Wanderjahre

im Feld der medizinischen Anthropologie spezialisieren, für die es in Ungarn weder Spezialisten noch Lehrstühle gibt. Hätte Nordau mit Forschungen auf diesem neuen, auch universitär noch im Prozeß der Herausbildung befindlichen Gebiet im medizinisch fortschrittlichen Paris reüssiert, hätte mit Hilfe des zuständigen Ministers, an den sich zu wenden Lenhossek Nordau empfiehlt, vielleicht eine Chance auf eine Karriere Nordaus an der Pester me­dizinischen Fakultät und auf die Einrichtung eines Lehrstuhls für ihn bestanden. 72

Aber schon ein Reisestipendium von 1700 Gulden, das Nordau bei der Fakultät beantragt hatte, wird von den magyarisch national gesinnten Fakultätskollegen Lenhosseks abgelehnt, weil Nordau sich in Paris ungamfeindlich geäußert haben soll. 73 Die medizini­sche Fakultät von Pest will den inzwischen bekannten jungen Jour­nalisten nicht zum Kollegen machen, sie signalisiert durch die mehrheitliche Ablehnung des Stipendiums, daß sie die Fortsetzung seiner medizinischen Karriere nicht unterstützt. Zumindest im wis­senschaftlichen Sektor ist Nordau damit expatriiert.

Den radikalen Schritt, die Familienbande ganz zu lösen und Mutter und Schwester, die ökonomisch gänzlich von ihm abhängig sind, in Pest zurückzulassen, vollzieht er nicht. Er nimmt die beiden nach Paris mit. Im April löst er den ganzen Pester Hausstand auf und fährt am l.Mai mit Mutter und Schwester zusammen aus Pest ab. Dieser Schritt ist um so mutiger, als er anscheinend kein festes Engagement als Paris-Korrespondent einer Zeitung hat und damit über kein festes Monatseinkommen verfügen kann. Er hat seine Ersparnisse, muß voraussichtlich jedoch mit Familie von den schwankenden Honoraren leben, die er sich als freier Mitarbeiter verschiedener Blätter erschreibt. Denn auch die Neue Freie Presse lehnt auf der Durchreise in Wien ein festes Engagement ab. Trotz-

72 Die Angabe von Anna Nordau (Max Nordau. Erinnerungen, S. 103), Nordau habe 1876 in Pest einen Lehrstuhl für Anthropologie ausgeschlagen, ließ sich nicht bestätigen; vielmehr wäre dann ja der Forschungsaufenthalt in Paris überflüssig gewesen. Noch Freud hatte über ein Jahrzehnt später im weit fortge­schritteneren Wien analoge Probleme einer inneruniversitären Anerkennung und Institutionalisierung seiner Forschungen; vgl. Peter Gay, Freud. Eine Bio­graphie für unsere Zeit, Frankfurt/M. 1989, S.67ff.

73 Brief Lenhossek - Nordau, Pest, 20.5.1876, ZZA A 119/120/9.