Wahlexil Paris
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dem richtet sich Nordau in Paris richtig ein. Er mietet für die kleine Familie eine Wohnung mitten in seinem Lieblingsviertel nahe dem Odeon, Rue St.-Andre-des-Arts No. 45.
Den Lebensunterhalt bestreitet Nordau zunächst, indem er für das Neue Pester Journal und, nach Wiederaufnahme alter Beziehungen, für die Frankfurter Zeitung und Handelsblatt sowie für die Handels- und Seefahrts-Zeitung in Göteborg Feuilletons über das Pariser Leben schreibt. Neben seiner Hospitanz bei dem Psychiater Jean Martin Charcot (1825-1893), der aufgrund seiner neuartigen Anwendung von Hypnose bei der Behandlung von Hysterie- Fällen weltberühmt geworden war, im ebenso weltberühmten Hospice de la Salpetriere ab dem Wintersemester 1876, begann Nordau jedoch auch schon praktisch als Arzt zu arbeiten. Und zwar, wenn wir einem möglicherweise autobiographischen Kapitel seines Buchs Paris. Studien und Bilder aus dem wahren Milliardenlande (1881) glauben dürfen, 74 im alten Hötel-Dieu, einem Armenkrankenhaus auf der Ile de la Cite, direkt am Fuß der Kathedrale Notre-Dame an der Seine und gerade fünf Wegminuten vom Domizil Nordaus in der Rue St.-Andre-des-Arts gelegen. Nordau beschreibt diesen mittelalterlichen Bau, der durch das heutige, von Diet 1868-1878 erbaute neue Hötel-Dieu ersetzt, dann 1880 abgerissen wurde und einer Reiterstatue Karls des Großen weichen mußte, noch aus eigener Anschauung: die dicken Mauern und verliesartigen Gewölbe, welche z. T. unter der Wasseroberfläche der Seine lagen, die durch die wenigen kleinen Fenster sichtbar wurde. Fast nostalgisch schildert er die wahrlich mittelalterlichen Hygieneverhältnisse, aber auch den altertümlichen Charme einer Institution des alten Paris nur wenige Jahre vor ihrer Zerstörung.
Daß Nordau dort als Pathologe tätig war, legt seine bis dahin ja vollkommen fehlende medizinische Praxiserfahrung nahe - auch ein blutiger Anfänger konnte in der Pathologie nicht soviel Schaden anrichten wie an lebenden Patienten. Vor allem aber wird diese Annahme gestützt durch die vermutlich halbautobiographische Erzählung Pas de chance aus seiner 1879 erschienenen Sammlung
74 Es handelt sich hier um die 2. Aufl. von Aus dem wahren Milliardenlande f 1 1878) von 1881. Nur die 2. Aufl. enthält dieses Kapitel, das nach dem Abriß des alten Hotel Dieu 1880 geschrieben wurde.