Aus dem wahren Milliardenlande
85
Verhältnisse gewann, wird von Darwin als »Kampf ums Dasein« zu einem allgemeinen biologischen Gesetz der gesamten Natur erweitert. Natürliche Selektion, die »Zuchtwahl«, so Darwin mit Mal- thus, sorgt dafür, daß angesichts beschränkten Lebensraums und beschränkter Ressourcen in der Natur nur die stärksten und anpassungsfähigsten Organismen den »Kampf ums Dasein« überleben. Der »Kampf ums Dasein« ist die natürliche Regelung, welche vor Überbevölkerung einer Region oder der ganzen Erde durch Menschen, Tiere und Pflanzen schützt . 83 In diesem »Krieg der Natur« überlebt und vermehrt sich nur der Kräftigere, Gesundere und Geschicktere . 84
So wird die durch natürliche Mutation entstandene Artenvielfalt im Prozeß der Evolution einerseits dezimiert, andererseits progressiv immer weiter entwickelt. Denn da sich im biologischen Kampf ums Dasein wie im kapitalistischen Wirtschaftsleben vorgeblich stets nur die Stärksten, Geschicktesten und Geeignetsten durchsetzen, steht die Evolutionstheorie Darwins unausgesprochen für einen Prozeß natürlicher, unaufhaltsamer und unendlicher Entwicklung zum Besseren. Die Evolution garantiert umfassend, im Reich der Natur wie in der menschlichen Gesellschaft, unendlichen Fortschritt. Religiös, dessen ist sich Darwin selber bewußt, ersetzt die Evolutionstheorie die biblische Schöpfungslehre; philosophisch leistet sie, indem sie Krankheit und Tod als Mittel natürlicher und notwendiger Selektion zum Zwecke unendlicher fortschrittlicher Entwicklung des Ganzen rechtfertigt, was Leibniz’ Metaphysik anstrebte: Theodizee . 85
Nordau übernimmt nun. gleich in seinem ersten Buch, beide biologischen Prinzipien Darwins und gebraucht sie wie selbstverständlich in dem ursprünglichen demographischen und bevölkerungspolitischen Kontext, den sie bei Malthus innehatten. Aber er tut dies, ganz anders als Malthus, mit der Maßgabe, daß beide Prin-
83 Charles Darwin, Über die Entstehung der Arten, S. 69.
84 Ebd.S.84.
85 Zur biblischen Schöpfungslehre und zu Leibniz s. Charles Darwin über die Entstehung der Arten, S. 484ff. Vgl. Dolf Stemberger, Panorama oder Ansichten vom 19. Jahrhundert (1938), Kap. IV: »Das Zauberwort Entwicklung«, Frankfurt/M. 1981,112-156.