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Psychopathologie des Fin de siècle : der Kulturkritiker, Arzt und Zionist Max Nordau / Christoph Schulte
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Wanderjahre

nete den Artikel anonym mit »Ein Deutsch-Ungar«. Er beginnt mit einer ausführlichen Schilderung der langen und einflußreichen Ge­schichte der deutschen Minderheiten in Ungarn, zu denen Nordau die fast immer deutschsprachigen etwa 500000 Juden nicht einmal zählt. 104 Ausgangsthese des historischen Exkurses ist: »Die Deut­schen Ungarns sind in ihrem Vaterlande so wenig Fremde, wie die Deutsch-Oesterreicher in Oesterreich, die deutschen Schwei­zer in der Eidgenossenschaft oder die baltischen Deutschen in den Ostseeprovinzen .« 105

Angesichts der historischen ebenso wie der juristischen Legiti­mität von deutscher Sprache und Kultur in Ungarn empfindet Nordau die neuerlichen Maßnahmen zur Magyarisierung des öf­fentlichen Lebens in Ungarn seit dem Jahr 1861 skandalös. Anlaß des Artikels ist neben dem Sprachenstreit in den Schulen die ver­suchte Schließung des deutschen Theaters in Pest auf Beschluß der Stadtverordnetenversammlung. Nordau weist aus eigener Erfah­rung auf die negativen Folgen der Magyarisierung des Bildungswe­sens hin, die schon 1861 mit der gewaltsamen Einführung des Un­garischen als Unterrichtssprache in den beiden deutschen Gymna­sien von Pest eingesetzt hatte. Ohne zu erwähnen, daß er selbst dort seinerzeit Schüler gewesen ist, schildert Nordau, wie hochqualifi­zierte deutschsprachige Lehrer zugunsten von moralisch fragwür­digen und minder qualifizierten Magyaren entlassen wurden. Der Unterricht erfolgte nun in Ungarisch, einer Fremdsprache für die Schüler der Gymnasien, die deswegen manchmal dem Unterricht einfach nicht mehr folgen konnten. Zuletzt war der Zwang zum Ungarischen jedoch auch, gegen das Volksschul-Gesetz von 1868, auf Elementar- und Mittelschulen ausgeweitet worden.

Ähnliches ereignete sich in den Behörden. Beamte, die wegen ihres Alters die ungarische Sprache nicht mehr erlernen konnten, wurden entlassen. Gegen das Nationalitätengesetz verstoßend, konnten die deutschsprachigen Bürger neuerdings ihre Eingaben

104 Die Gartenlaube, No. 24 (1880), S. 403-407, hier S.403. Dieser anonym veröffentlichte Artikel ist nur durch den Briefwechsel Nordaus mit der Redak­tion der Gartenlaube als ein Text Nordaus zu identifizieren; er fehlt bislang in allen Nordau-Bibliographien.

105 Ebd.