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Wanderjahre
nete den Artikel anonym mit »Ein Deutsch-Ungar«. Er beginnt mit einer ausführlichen Schilderung der langen und einflußreichen Geschichte der deutschen Minderheiten in Ungarn, zu denen Nordau die fast immer deutschsprachigen etwa 500000 Juden nicht einmal zählt. 104 Ausgangsthese des historischen Exkurses ist: »Die Deutschen Ungarns sind in ihrem Vaterlande so wenig Fremde, wie die Deutsch-Oesterreicher in Oesterreich, die deutschen Schweizer in der Eidgenossenschaft oder die baltischen Deutschen in den Ostseeprovinzen .« 105
Angesichts der historischen ebenso wie der juristischen Legitimität von deutscher Sprache und Kultur in Ungarn empfindet Nordau die neuerlichen Maßnahmen zur Magyarisierung des öffentlichen Lebens in Ungarn seit dem Jahr 1861 skandalös. Anlaß des Artikels ist neben dem Sprachenstreit in den Schulen die versuchte Schließung des deutschen Theaters in Pest auf Beschluß der Stadtverordnetenversammlung. Nordau weist aus eigener Erfahrung auf die negativen Folgen der Magyarisierung des Bildungswesens hin, die schon 1861 mit der gewaltsamen Einführung des Ungarischen als Unterrichtssprache in den beiden deutschen Gymnasien von Pest eingesetzt hatte. Ohne zu erwähnen, daß er selbst dort seinerzeit Schüler gewesen ist, schildert Nordau, wie hochqualifizierte deutschsprachige Lehrer zugunsten von moralisch fragwürdigen und minder qualifizierten Magyaren entlassen wurden. Der Unterricht erfolgte nun in Ungarisch, einer Fremdsprache für die Schüler der Gymnasien, die deswegen manchmal dem Unterricht einfach nicht mehr folgen konnten. Zuletzt war der Zwang zum Ungarischen jedoch auch, gegen das Volksschul-Gesetz von 1868, auf Elementar- und Mittelschulen ausgeweitet worden.
Ähnliches ereignete sich in den Behörden. Beamte, die wegen ihres Alters die ungarische Sprache nicht mehr erlernen konnten, wurden entlassen. Gegen das Nationalitätengesetz verstoßend, konnten die deutschsprachigen Bürger neuerdings ihre Eingaben
104 Die Gartenlaube, No. 24 (1880), S. 403-407, hier S.403. Dieser anonym veröffentlichte Artikel ist nur durch den Briefwechsel Nordaus mit der Redaktion der Gartenlaube als ein Text Nordaus zu identifizieren; er fehlt bislang in allen Nordau-Bibliographien.
105 Ebd.