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Psychopathologie des Fin de siècle : der Kulturkritiker, Arzt und Zionist Max Nordau / Christoph Schulte
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Die conventioneilen Lügen der Kulturmenschheit

erwähnt, Nordau seinerseits Freud auch nicht. Trotz der gegenseiti­gen Antipathie gelang es beiden jedoch nicht, voneinander keine Notiz zu nehmen. In späteren Jahren waren sie sowohl regelmäßige Leser als auch Autoren der Wiener Neuen Freien Presse. Dort hat Nordau, der 1892/93 mit Entartung seine Psychopathologie der herrschenden Kultur vorgelegt hatte, in seinen Paris-Feuilletons die in Entartung entwickelte Kulturkritik immer wieder neu auf Skulptur, Malerei, Literatur und Theater angewendet. Freud hat diese zwischen 1895 und 1914 erscheinenden Dutzende von Feuilletons vielleicht nicht alle gelesen, aber sie sind ihm als Abon­nenten der Neuen Freien Presse auch schwerlich entgangen. Des­gleichen hat er die Entwicklung des Zionismus verfolgt und muß auf diese Weise von der Rolle Nordaus im Zionismus gewußt ha­ben.

Freud hat mit den 1895 zusammen mit Breuer herausgegebenen Studien über Hysterie seine erste bedeutende psychoanalytische Arbeit vorgelegt. Danach begann eigentlich erst mit der Traum­deutung 1900 seine wissenschaftliche und publizistische Karriere. Darauf, daß Nordau, der alle psychologischen und psychoanaly­tischen Neuerscheinungen systematisch verfolgte, dieses Grund­buch der Psychoanalyse kannte, weist eine kurze, aber unzweideu­tige ironische Anspielung hin, die sich am 21.12.1907 in einem der Nordau-Feuilletons in der Neuen Freien Presse findet, wo Nordau aus eigener Erfahrung einen eifersüchtigen Mann schildert, dessen Frau von einem anderen Mann geträumt hatte.

Auf alle meine Einwendungen entwickelte er, lange, ehe es ein Wiener Neurologe getan, die Theorie, im Traume werde nur das Unbewußte dämmerbewußt, der Traum setze nur vorhandene Strebungen bis zur Erfüllung fort, der die Wirklichkeit Hinder­nisse entgegenstelle, man träume nichts, was man nicht wach ge­wünscht, gedacht, ersonnen habe. Es erwies sich als unmöglich, den Mann zu beruhigen und zu vernünftigeren Ansichten zu be­kehren.

Diese Anspielung zeugt nicht von besonders eingehender Kennt­nis oder Auseinandersetzung Nordaus mit Freud, aber sie bezeugt

benu« (Mein Treffen mit Freud und meine Diskussion mit ihm über Moses; hebräisch), in: Bitzaron 23 (1950/51), S. 101-108.