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Die conventioneilen Lügen der Kulturmenschheit
erwähnt, Nordau seinerseits Freud auch nicht. Trotz der gegenseitigen Antipathie gelang es beiden jedoch nicht, voneinander keine Notiz zu nehmen. In späteren Jahren waren sie sowohl regelmäßige Leser als auch Autoren der Wiener Neuen Freien Presse. Dort hat Nordau, der 1892/93 mit Entartung seine Psychopathologie der herrschenden Kultur vorgelegt hatte, in seinen Paris-Feuilletons die in Entartung entwickelte Kulturkritik immer wieder neu auf Skulptur, Malerei, Literatur und Theater angewendet. Freud hat diese zwischen 1895 und 1914 erscheinenden Dutzende von Feuilletons vielleicht nicht alle gelesen, aber sie sind ihm als Abonnenten der Neuen Freien Presse auch schwerlich entgangen. Desgleichen hat er die Entwicklung des Zionismus verfolgt und muß auf diese Weise von der Rolle Nordaus im Zionismus gewußt haben.
Freud hat mit den 1895 zusammen mit Breuer herausgegebenen Studien über Hysterie seine erste bedeutende psychoanalytische Arbeit vorgelegt. Danach begann eigentlich erst mit der Traumdeutung 1900 seine wissenschaftliche und publizistische Karriere. Darauf, daß Nordau, der alle psychologischen und psychoanalytischen Neuerscheinungen systematisch verfolgte, dieses Grundbuch der Psychoanalyse kannte, weist eine kurze, aber unzweideutige ironische Anspielung hin, die sich am 21.12.1907 in einem der Nordau-Feuilletons in der Neuen Freien Presse findet, wo Nordau aus eigener Erfahrung einen eifersüchtigen Mann schildert, dessen Frau von einem anderen Mann geträumt hatte.
Auf alle meine Einwendungen entwickelte er, lange, ehe es ein Wiener Neurologe getan, die Theorie, im Traume werde nur das Unbewußte dämmerbewußt, der Traum setze nur vorhandene Strebungen bis zur Erfüllung fort, der die Wirklichkeit Hindernisse entgegenstelle, man träume nichts, was man nicht wach gewünscht, gedacht, ersonnen habe. Es erwies sich als unmöglich, den Mann zu beruhigen und zu vernünftigeren Ansichten zu bekehren.
Diese Anspielung zeugt nicht von besonders eingehender Kenntnis oder Auseinandersetzung Nordaus mit Freud, aber sie bezeugt
benu« (Mein Treffen mit Freud und meine Diskussion mit ihm über Moses; hebräisch), in: Bitzaron 23 (1950/51), S. 101-108.