Unbehagen in der Kultur
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die Kenntnisnahme. Kurz: Nach den Begegnungen von 1886 gingen die beiden Ärzte sich aus dem Weg, verloren sich jedoch nicht aus dem Blick. Das ist angesichts ihrer Gemeinsamkeiten nicht verwunderlich. Beiden gemeinsam ist der ärztliche Blick auf die ganze Kultur, das Interesse an individuellen, aber auch kollektiven Erkrankungen der Psyche. Nordau ist mit seinen beiden Bänden von Entartung einige Jahre vor Freud der erste Denker, der die gesamte Kultur des Fin de siecle aus der Perspektive des Psychopathologen betrachtet, er ist der erste Autor überhaupt, der das gesamte Arsenal der zeitgenössischen Psychopathologie in der Kulturkritik anwendet und damit nicht den Theologen, Philosophen, Historiker oder Soziologen, sondern den Seelenarzt als Richter über Kultur und Unkultur inthronisiert. Freud ist mit seiner populär gewordenen Anwendung der Psychoanalyse in der Kulturkritik und als Kulturkritik dann derjenige, der dafür sorgt, daß diese Neuerung uns heute als eine vollkommen legitime, fruchtbare und vertraute Möglichkeit der Betrachtung und Kritik von Kultur erscheint.
In der neuartigen, psychopathologischen Analyse virtuell aller Kulturphänomene als dem Königsweg von Wissenschaft und Kritik liegt eine Gemeinsamkeit zwischen Nordau und Freud, die stärker ist als die Differenzen in der Ausbildung der jeweiligen Theoreme. Hier werden nicht mehr einzelne Krankengeschichten betrachtet, sondern Kultur als solche wird auf Krankheitssymptome hin untersucht. Nicht, wie wir nach der Lektüre von Susan Sontags Essay Krankheit als Metapher meinen könnten 3 , die Syphilis oder die Tuberkulose sind für die beiden die Krankheit des Jahrhunderts, sondern nervöse, psychische Erkrankungen. Aber während für Nordau die »erbliche Entartung« die Krankheit ist, unter der die Kultur des Fin de siecle leidet, sind für Freud die mit der Entwicklung von Kultur verbundene Zunahme der Verdrängung und die daraus resultierenden Neurosen die Krankheit des Jahrhunderts. Hier trennen sich sowohl Diagnose als auch Therapie der beiden. Aber das Unbehagen in der Kultur des Fin de siecle ist schon damals bei beiden Anstoß und Anliegen dieser Entwick- lung.
3 Susan Sontag, Krankheit als Metapher, München 1980.