Unbehagen in der Kultur
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Monarchie, der Staat, die Wirtschaft oder die Ehe stellen angesichts des naturwissenschaftlichen Erkenntnisstandes veraltete, zur Konvention geronnene Lügen dar.
Das herrschende Unbehagen, so Nordau, hat in der Geschichte nicht seinesgleichen. Ähnliche Phänomene ließen sich nur beim »Todeskampf« der antiken Welt beobachten, als die Eliten auch nicht mehr an die Lehren der Priester und Schulen glaubten und sich in Selbstmord oder Drogen flüchteten. Nordau zieht hier eine Parallele zwischen dem Niedergang Roms und der Moderne, die sich prominent zuerst bei Gibbon 7 , nach Nordau dann 1917 in Spenglers Untergang des Abendlandes findet. Aber im alten Rom betraf dieses Unbehagen nur die Eliten, in der Gegenwart hingegen »die riesige Mehrheit aller Kulturmenschen«. 8
»Woher nun dieser unleidliche Seelenzustand der Kulturmenschheit? (...) Woher? Aus derselben Ursache, welche die gebildeten Spätrömer mit jenem Ekel vor der Leere des Daseins erfüllte, (...) aus dem Gegensatz zwischen unserer Weltanschauung und allen Formen unseres individuellen, gesellschaftlichen und bürgerlichen Lebens. Jede unserer Handlungen widerspricht unseren Überzeugungen, verhöhnt sie, straft sie Lügen. Ein unüberbrückbarer Abgrund klafft zwischen unserer Erkenntniß, zwischen dem, was wir als Wahrheit empfinden, und den herkömmlichen Einrichtungen, unter denen wir zu leben und zu wirken gezwungen sind.« 9 »Literatur und Kunst, Philosophie, Politik und Wirtschaftsleben, alle Erscheinungen des gesellschaftlichen und individuellen Daseins lassen also einen einzigen gemeinsamen Grundzug erkennen: die bittere Unbefriedigung über die Weltwirklichkeit .« 10
Was ist nun dagegenzuhalten? Nordau bekenntnishaft: »Unsere Weltanschauung ist die naturwissenschaftliche ,« n Diese naturwissenschaftliche Weltanschauung beschreibt er dann in groben
7 Edward Gibbon, The History of the Decline and Fall of the Roman Empire (1776-1788), hg. v. Dero A. Saunders, New York 1985.
8 Nordau, Die conventionellen Lügen, S. 29.
9 Nordau, Die conventionellen Lügen, S. 29f.
10 Nordau, Die conventionellen Lügen, S. 19f.
11 Nordau, Die conventionellen Lügen, S. 30.