Druckschrift 
Psychopathologie des Fin de siècle : der Kulturkritiker, Arzt und Zionist Max Nordau / Christoph Schulte
Seite
134
Einzelbild herunterladen

134

Die conventioneilen Lügen der Kulturmenschheit

und anerkennt. Nichts »Transcendentales« kann jenseits der Gren­zen von Natur und Naturwissenschaften behauptet werden. Der gemeinsame Nenner Nordaus mit einer ganzen Schule von positivi­stischen Denkern in England und Frankreich, namentlich John Stewart Mill, Herbert Spencer, Emile Littre, Emest Renan und Hip­polyte Taine, deren Werke Nordau ebenso wie dasjenige Comtes vertraut waren, ist die Überzeugung, daß alles Wissen, das wir ha­ben können, empirisches Wissen von empirisch gegebenen Phäno­menen ist. 18 Für Nordaus naturwissenschaftliche Weltanschauung sind, ganz im Sinne der positivistischen Schule, empirische Phäno­mene in Natur und Gesellschaft der Gegenstand von Wissenschaft. Wer behauptet, über die Empirie hinaus etwas zu wissen, lügt.

Nun hat Nordau selbst nie im Sinne des Positivismus empirisch geforscht. Bei ihm ist der Positivismus, was er allerdings auch bei Comte schon war, nicht Ergebnis eigener Erfahrung, sondern von vornherein Weltanschauung (vor fünfzehn Jahren hätte man hier noch »Ideologie« geschrieben). Eine »naturwissenschaftliche Weltanschauung«, an der die Kultur gemessen wird. Gemessen und für verlogen befunden. Eine Kulturmenschheit lügt, so Nordau, die einerseits in Paris in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts die fort­geschrittensten naturwissenschaftlichen Forschungseinrichtungen der Welt geschaffen hatte und bewunderte, andererseits jedoch in jeder Messe den »Hokuspokus« der Transsubstantiation zele­brierte.

Dieser in Kulturkritik transformierte, populäre Positivismus Nordaus verträgt sich nur zu gut mit seinem Darwinismus. Mehr noch: Der Positivismus allein ist für Nordau noch gar keine zu­reichende Weltanschauung. Er hat die Metaphysik vom Thron ge­stoßen, aber dann sei Comte auf halbem Weg stehengeblieben, die Positivisten haben sich in Detailforschungen verloren und die Su­che nach einer befriedigenden Weltanschauung sei aufgegeben worden. 19 Diese umfassende naturwissenschaftliche Weltanschau­ung über die empirische Feststellung des Bestehenden hinaus lie­fert Nordau erst der Darwinismus. Positivismus und Darwinismus

18 Vgl. Donald Geoffroy Charlton, Positivist Thought in France during the Second Empire 1852-1870, Oxford 1959, S.5-11.

19 Nordau, Die conventionellen Lügen, S. 15.