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Psychopathologie des Fin de siècle : der Kulturkritiker, Arzt und Zionist Max Nordau / Christoph Schulte
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Unbehagen in der Kultur

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finden in der naturwissenschaftlichen Weltanschauung in der Weise zusammen, daß der Darwinismus den Positivismus notwen­dig ergänzt.

Denn hatte schon der Positivismus die Grenze zwischen Natur und Gesellschaft unter dem Vorzeichen empirischer Betrachtungs­weise aufgehoben und Comte die Sciences sociales nach dem Modell der Sciences naturelles begründet, so legitimiert nun der Darwinismus die Leugnung der Sonderstellung des Menschen im Kosmos und gibt, was Religion und Philosophie nicht mehr vermö­gen, im Namen des >Naturgesetzes< vom Kampf ums Dasein Nord- aus Weltanschauung eine vermeintlich sichere, naturwissenschaft­liche »Grundlage allen Rechts und aller Moral«. Was der Positivis­mus aus Prinzip nicht vermag, weil er empirisch nur feststellen kann, was ist, nicht, was sein soll, reicht der Darwinismus nach: eine weltanschauliche Grundlage für das, was sein soll, die Vor­schriften und Normen von Recht und Moral. Und was soll sein, im Sinne eines solchen populären Darwinismus? Evolution.

Die Evolutionstheorie wird von Nordau zur Norm erhoben. Evo­lution findet in der Natur nicht nur statt, sie soll und muß auch stattfinden. Evolution ist die Norm in Nordaus naturwissenschaft­licher Weltanschauung. Sie gibt ihr, anders als der Positivismus, eine Grundlage für Recht und Moral, aber auch für seine ganze Kul­turkritik der Conventionellen Lügen und späterer Werke. Die zur weltanschaulichen Norm erhobene Evolutionstheorie vermag nämlich besonders gut die Überzeugung vom zukünftigen, unendli­chen Fortschritt der Menschheit mit wissenschaftlichen Mitteln zu stützen und zu garantieren. Die Evolutionstheorie ist für Nordau wie für Millionen andere Bürgerliche des 19. Jahrhunderts der na­turwissenschaftliche Stützpfeiler ihres Fortschrittsoptimismus. Für Nordau ist sie überdies Kriterium seiner Kritik am Nicht-Fort­schrittlichen, an »conventioneilen Lügen« und an »Entartung«.

Ist der Mensch erst einmal nicht mehr, wie in der Metaphysik, animal rationale, sondern wie im Darwinismus ohne differentia specifica ein animal wie alle anderen, ist der Mensch nur noch Natur wie alle andere Natur, dann ist er dem allgegenwärtigen Kampf ums Dasein aller Natur unterworfen. Die Selektion sichert das Überleben nur der Tüchtigsten und verspricht - faktisch und normativ zur Weltanschauung erhoben - eine ständige, unendliche