136
Die conventionellen Lügen der Kulturmenschheit
Entwicklung des Ganzen zum Besseren. Auf Kosten, >natürlich<, der Schwachen. »Die unvollkommensten Individuen werden im Kampfe um den ersten Platz vernichtet und verschwinden. Der Durchschnittstypus wird fortwährend edler und besser. (...) Es ist ein Wettlauf ohne Ende, doch immer nach vorwärts .« 20
Die Kritik der conventionellen Lügen der Kulturmenschheit ist im einzelnen nicht so überzeugend. Aber das gleichnamige Buch ist flott geschrieben. Dieser Umstand und das sofortige Verbot des Buches in Österreich sicherten seinen Erfolg. Nur klingen die Sottisen über Religion und Adel bei Voltaire eben doch etwas frischer, die Klagen gegen die staatliche Reglementierung aller Lebensbereiche und gegen die Steuer sind altliberales Gedankengut, die Kritik des Kapitalismus und Pauperismus unterbietet analytisch wie literarisch das Jahrzehnte vorher entstandene Kommunistische Manifest von 1848. Das Kapitel über Die Ehelüge ist originell darin, daß es das neuartige Genre des Stammtisch-Darwinismus erschafft, und die Solidaritätsadresse der Schlußharmonie bietet Utilitarismus ä la Mill für Lebenstüchtige. Daß das Ganze dem Zeitgeist immer knapp voraus ist, zeigen die hohen Auflageziffem ebenso wie die Verbote des Buchs in den reaktionärsten Monarchien. Wirklich neu ist nichts, aber es ist unbestreitbar, daß diese »naturwissenschaftliche Weltanschauung« aus dem Geiste des sonst erzlangweiligen Positivismus mit viel essayistischer Fertigkeit formuliert ist.
Die religiöse Lüge
Das Kapitel Die religiöse Lüge zerfällt in zwei Teile. Den ersten Teil beschäftigen die Bedürfnisse des Menschen, die zu Religion führen. Denn Furcht und das Bedürfnis nach Trost, so Nordau, lassen den Menschen seit jeher nach übernatürlicher Hilfe Ausschau halten. Ebenso unausrottbar ist die Suche nach einem Ideal und nach Erbauung, die auch aufgeklärte Menschen immer wieder in die Illusionen und den Aberglauben der Religion zurückfallen läßt. Aber
20 Nordau, Die conventionellen Lügen, S. 138.