Die religiöse Lüge
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diese Suche nach Schutz, Trost oder Erbauung durch Religion, die zum Gottes-, Seelen- und Unsterblichkeitsglauben führe, ist für Nordau noch eine »ehrliche Schwäche« des Menschen.
Lüge und Heuchelei hingegen seien die Verehrung von Glaubenssätzen, Einrichtungen, Festen, Zeremonien, Symbolen und Priestern in den positiven Religionen . 21 Der Kritik dieser institutionalisierten Heuchelei ist der zweite Teil des Kapitels gewidmet. Denn weit empörender als die individuellen Lügen trotz Aufklärung seien die Lügen des Gemeinwesens, das Religion fördere, subventioniere und belohne, obwohl deren Lehren und »Hokuspokus« allgemein anerkannten Naturgesetzen widerspreche. Atheisten hingegen würden öffentlich diskriminiert und verfolgt . 22 Dabei sei die Bibel ein widerspüchliches Machwerk und selbst als Literatur kaum zweitrangig. Pfarrer, Pastoren und Rabbiner, kurz: »Priester« seien zu behandeln wie die Medizinmänner der Rothäute , 23 denn ihre Segnungen und Gebete richten naturwissenschaftlich gesehen nichts aus.
In der Konsequenz kann Nordau nur die Trennung von Kirche und Staat fordern, um trotz der Schwächen der Individuen die religiöse Lüge wenigstens nicht noch mit staatlicher Hilfe aufrechtzuerhalten oder gar zu fördern. Das Judentum wird in Nordaus Religionskritik übrigens fast nicht erwähnt, aber das wird in den allerchristlichen Nationen vom Staat seinerzeit auch eher diskriminiert als unterstützt. In einer Anekdote von der Wiener Universität berichtet Nordau, daß fast ausnahmslos Juden sich dort (wo das möglich war) als »konfessionslos« immatrikulierten, also aus ihrem Abschied von der Religion trotz der daraus erwachsenden Nachteile keinen Hehl machten. Und es wird deutlich, daß Nordau diese Haltung gutheißt.
21 Nordau, Die conventionellen Lügen, S. 68 f.
22 S. 75f.
23 S. 407.