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Die conventioneilen Lügen der Kulturmenschheit
tung der Wähler Wahlversammlungen, die Abgeordnete mit imperativem Mandat ins Parlament entsenden. Hierin gar nicht mehr liberal, fordert er, daß bei abweichendem Stimmverhalten die Abgeordneten ihr Mandat verlieren würden, »der Schwerpunkt des Staatsbaues läge in den Wählerversammlungen «. 43
Soweit Nordaus Theorie. Die Praxis sieht, wie er weiß, anders aus. Statt der Selbstbestimmung des Volkes sei der Parlamentarismus eine Herrschaft weniger Egoisten und ihres Anhangs, die jeweils ihre Klientel bedienen. Der Ehrgeizige, Vulgäre, Vielversprecher und Schwätzer, nicht der Wissenschaftler und Weise wird Abgeordneter oder gar Minister. Aber Nordau versagt sich jede Utopie über den Verbesserungsvorschlag des imperativen Mandats und der Wählerversammlung hinaus. Radikalismus ist, außer im Wort, seine Sache nicht. Der Staat muß nicht weg, der Parlamentarismus soll, obgleich ungeliebt und alles andere als aristokratisch, eher realpolitisch reformiert werden. Nordau als guter Darwinist setzt auf Evolution, nicht auf Revolution.
Die wirtschaftliche Lüge
Besonders deutlich wird Nordaus Ablehnung der Revolution im Kapitel Die wirtschaftliche Lüge. Dort stehen sich eine scharfe, wenn auch nicht tiefgehende Kritik des Kapitalismus und eine ebenso scharfe Abwehr des Kommunismus gegenüber. Eine proletarische Revolution kommt für Nordau nicht in Frage. Zwecks Veränderung der Mißstände des Kapitalismus setzt Nordau mit wenigen Vorschlägen auf die Verbesserung der Landwirtschaft gegen den Hunger, auf die Einrichtung kostenloser staatlicher Bildungseinrichtungen für Kinder und Jugendliche, gegen die Kinderarbeit und auf die staatliche Enteignung aller Erbschaften. Andere Sozialreformen zur Bekämpfung von Armut, Arbeitslosigkeit oder Krankheit fehlen ganz. Sowohl Nordaus Kapitalismuskritik als auch seine Reformvorschläge sind merkwürdig hinter ihrer Zeit zurück.
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43 S. 199.