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Psychopathologie des Fin de siècle : der Kulturkritiker, Arzt und Zionist Max Nordau / Christoph Schulte
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Die wirtschaftliche Lüge

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Auffallend ist zunächst, daß Nordau entgegen seiner darwinisti- schen Überzeugung, den Kapitalismus nicht als die moderne, indu­strialisierte Form des Kampfes ums Dasein betrachtet, wie das bei einem Leser von Malthus und Darwin doch nahegelegen hätte. Der Kapitalismus gilt ihm vielmehr als unnatürlich, denn die Natur kenne weder die absolute Armut noch den absoluten Reichtum des Kapitalismus.

»In keiner Zeit sind die Gegensätze zwischen Reich und Arm so schroff und gewaltsam gewesen wie gegenwärtig .« 44 »Der Rei­che ist also reicher, der Arme ärmer als er je in geschichtlicher Zeit gewesen. (...) Der moderne Proletarier ist elender als der Sklave des Alterthums, denn er wird von keinem Herrn er­nährt .,« 45

Die »absolute Armut« des Proletariers besteht darin, daß er in der Industriezivilisation keine Möglichkeit mehr hat, sein natürliches Nahrungs- und Schlafbedürfnis aus eigener Kraft befriedigen zu können, und daß er an dem Tage verhungert, an dem er seine Werft, seine Fabrik oder Werkstatt versperrt findet. Andererseits hatte selbst in der Antike kein Reicher das Vermögen eines Vanderbilt, Rothschild, Krupp oder Baron Hirsch angehäuft (mit dem Baron Hirsch wird Nordau später vergeblich zwecks finanzieller Unter­stützung der Zionisten verhandeln) 46

Es folgt eine seitenlange Suada gegen Großgrundbesitzer, Speku­lanten (»Schmarotzer«) und die Börse (»Die Börse ist eine Räuber­höhle ...«) 47 sowie die Großindustriellen. In der Großindustrie »nutzt ein Besitzer oder Nutznießer von Kapital die Tagelöhner aus, die ihm ihre Arbeitskraft vermiethen «. 48 Das alles ist getragen von moralischer Entrüstung, kaum von Kenntnissen der Funk­tionsweise des kapitalistischen Marktes. Der Blick bleibt am empö­renden Äußerlichen haften. Bürgerlich-humanitär ereifert Nordau sich für die Opfer, nicht gegen die Ursachen: Ein Börsenkrach sei eine »Massenabschlachtung« der kleinen Sparer zugunsten des

44 S. 225.

45 S. 232.

46 S. 229f.

47 S.243-246.

48 S.249.