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Psychopathologie des Fin de siècle : der Kulturkritiker, Arzt und Zionist Max Nordau / Christoph Schulte
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Die conventioneilen Lügen der Kulturmenschheit

Großkapitals 49 ; Bildung dürfe kein Gut der Privilegierten, sondern müsse Selbstzweck und allen zugänglich sein. Deshalb der gegen die Kinderarbeit gerichtete Vorschlag, analog zum Wehrdienst für alle Kinder und Jugendlichen bis zum Alter der Erwerbstätigkeit eine kostenfreie Schulbildung mit freier Verpflegung zu schaffen . 50

Überhaupt sei die Nahrungsmittelproduktion anzufachen. Der Hunger der Bevölkerung sei unnötig und skandalös. Malthus irre, wenn er meine, nur Bevölkerungsreduktion könne den Hunger ver­meiden, weil die Erde nicht mehr hergebe. Vielmehr könne durch intensivere Bewirtschaftung und technische Neuerungen der Er­trag um ein Vielfaches gesteigert werden. »Alle Civilisation drängt zur Industrie und zum Handel und lenkt von der Nahrungsmittel- Erzeugung ab.« 51 Dagegen weist Nordau auf die Notwendigkeit der Landwirtschaft hin und singt im Ton kitschiger moderner Agrar- Romantik, die dann auch im Zionismus hohe Wertschätzung errei­chen wird, das Lob der Scholle. Die Stadt hingegen ist die Ursache der Entartung ihrer Bewohner.

»Die Natur zeigt dem Menschen, daß er nicht ohne Acker leben kann, daß er des Feldes bedarf, wie der Fisch des Wassers; der Mensch sieht, daß er zu Grunde geht, wenn er sich von der Scholle losreißt, daß nur der Bauer sich ununterbrochen fort­pflanzt, gesund und stark bleibt, während die Stadt ihren Bewoh­nern das Mark ausdörrt, sie siech und unfruchtbar macht ...« 52

Angesichts solch pseudo-idyllischer Rückrufung der Natur und bäuerlich-gesunder Bodenständigkeit kann der stadtbewohnende, sieche Proletarier natürlich nicht mithalten und genießt nicht Nordaus Sympathien. Vom Kommunismus, dieser Proletarierbe­wegung, malt Nordau ein Schreckensbild. »Der Kommunismus, wie ihn alle sozialistischen Schulen verstehen und predigen, ist die thörichte Ausgeburt einer Phantasie, die sich ohne Rücksicht auf die Weltwirklichkeit und Menschennatur blauen Träume­reien hingibt .« 53

49 S.248.'

50 S. 266.

51 S.278.

52 S. 288.

53 S. 291 f.