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Psychopathologie des Fin de siècle : der Kulturkritiker, Arzt und Zionist Max Nordau / Christoph Schulte
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Die wirtschaftliche Lüge

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Kommunismus, da ist Nordau vor Marx stehengeblieben, ist wie bei Proudhon und Saint-Simon totale Gütergemeinschaft unter Aufhebung allen individuellen Eigentums, nicht des Eigentums an Produktionsmitteln. Ganz bürgerlicher Darwinist, hält Nordau die »Weltgütergemeinschaft« der frühen Sozialutopisten, die er für »alle sozialistischen Schulen« ausgibt, für unvernünftig, denn der Erwerb individuellen Eigentums sei beim Menschen ein aus dem Selbsterhaltungstrieb herrührender »natürlicher Lebensakt« und »Instinkt«, der selbst bei entsprechender kommunistischer Gesetz­gebung unausrottbar sei . 54

»Nicht im Kommunismus ist also die Lösung der wirtschaft­lichen Probleme zu suchen (...). Nicht nur für die Menschen, son­dern auch für weitaus die meisten Thiere ist individueller Besitz der natürliche Zustand .« 55

Was den Menschen allerdings vom Tier unterscheidet, ist der Versuch, seinen individuellen Besitz zu vererben. Genau dies gebe es in der Tierwelt nicht und sei deswegen unnatürlich. Deswegen fordert Nordau die Abschaffung der Vererbung von Eigentum und dessen vollständige Konfiskation durch den Staat nach dem Tode des Eigentümers. »Die Vererbung muß also abgeschafft werden; das ist das einzig natürliche und darum auch einzig mögliche Heil­mittel aller wirtschaftlichen Gebreste des Gesellschaftskörpers .« 56 Die Enterbung reize die Tüchtigen jeder Generation zu neuer An­strengung und tilge außerdem die Staatsverschuldung . 57 Nur wenn so das Gesamtvermögen nach dem Solidaritätsprinzip verteilt werde, ohne individuellen Besitz aufzuheben, und auch dem mo­dernen Verbrechen der Finanzspekulation ein Ende bereitet werde, könne sowohl dem Hunger als auch der drohenden proletarischen Revolution ein Riegel vorgeschoben werden.

Daß Enteignung nicht das einzig mögliche Heilmittel »aller wirt­schaftlichen Gebreste des Gesellschaftskörpers« ist, wie Nordau einfachhin behauptet, liegt auf der Hand; daß sie, ebenso wie das umfassende staatliche Kinderbildungsprogramm eines ungeheuren

54 S. 292-295.

55 S.293.

56 S. 298.

57 S. 298-303.