146
Die conventionellen Lügen der Kulturmenschheit
staatlichen »Reglementarismus«, »Protokollismus« und »Fiscalismus« bedarf, ist ebenso offensichtlich und bringt Nordau vollkommen in Gegensatz zu seinen liberalen, antistaatlichen Ausführungen des vorigen Kapitels. Von Ökonomie versteht er augenscheinlich nichts. Politisch ist Nordau ein den Staat und seine Steuergesetzgebung wenig liebender, eigentumsbewußter Liberaler, der sich zu dieser Haltung in Gegensatz stehende kleine Ausflüge ins Utopische gestattet, welche gerade wegen seines ernsten Eifers oft zwischen dem Peinlichen und dem Komischen schillern.
Die Ehelüge
Zwischen dem Peinlichen und dem Komischen, jedenfalls aus unserer heutigen Perspektive, bewegen sich auch viele Passagen des Kapitels Die Ehelüge. Selbst wenn wir nicht die Elle des Feminismus anlegen, zappelt Nordau heillos zwischen einem forcierten weltanschaulichen Darwinismus und dem Frauenbild des unfreiwilligen Junggesellen, der amouröse Verhältnisse, wenn überhaupt, nur heimlich und außerhäuslich erlebt und dem der Mut zum Eintreten für die Emanzipation der Frau ebenso abgeht wie der zur antibürgerlichen sexuellen debauche.
In einer merkwürdigen Mischung aus Protest und Verklemmtheit ersetzt ein immerhin vierunddreißigjähriger Junggeselle, von Beruf ausgerechnet niedergelassener Frauenarzt und Geburtshelfer, die von ihm heftig kritisierte christlich-viktorianische Ehemoral umgehend durch eine neue, avantgardistisch in naturwissenschaftlichem Gewand daherkommende: Die Ehe gerät ihm zur Veranstaltung der Erhaltung und Verbesserung der menschlichen Gattung im Sinne der Zuchtwahl mit Gebärpflicht für die nicht- degenerierte Frau. Der nicht benannte, gemeinsame Nenner zwischen beiden Formen der Moral ist, daß die Sexualität nie zwecklos, anarchisch oder ungesteuert sein darf. Ordnung, nicht nur im Geschlechterverhältnis, bleibt die erste Bürgerpflicht. Es ist zwar nicht mehr die christliche Moral, dafür nun aber eine »natürliche«, die Zuchtwahl-Ordnung, der die Sexualität untergeordnet wird.