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Psychopathologie des Fin de siècle : der Kulturkritiker, Arzt und Zionist Max Nordau / Christoph Schulte
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Die conventionellen Lügen der Kulturmenschheit

staatlichen »Reglementarismus«, »Protokollismus« und »Fisca­lismus« bedarf, ist ebenso offensichtlich und bringt Nordau voll­kommen in Gegensatz zu seinen liberalen, antistaatlichen Ausfüh­rungen des vorigen Kapitels. Von Ökonomie versteht er augen­scheinlich nichts. Politisch ist Nordau ein den Staat und seine Steuergesetzgebung wenig liebender, eigentumsbewußter Libera­ler, der sich zu dieser Haltung in Gegensatz stehende kleine Aus­flüge ins Utopische gestattet, welche gerade wegen seines ernsten Eifers oft zwischen dem Peinlichen und dem Komischen schillern.

Die Ehelüge

Zwischen dem Peinlichen und dem Komischen, jedenfalls aus un­serer heutigen Perspektive, bewegen sich auch viele Passagen des Kapitels Die Ehelüge. Selbst wenn wir nicht die Elle des Feminis­mus anlegen, zappelt Nordau heillos zwischen einem forcierten weltanschaulichen Darwinismus und dem Frauenbild des unfrei­willigen Junggesellen, der amouröse Verhältnisse, wenn überhaupt, nur heimlich und außerhäuslich erlebt und dem der Mut zum Ein­treten für die Emanzipation der Frau ebenso abgeht wie der zur antibürgerlichen sexuellen debauche.

In einer merkwürdigen Mischung aus Protest und Verklemmt­heit ersetzt ein immerhin vierunddreißigjähriger Junggeselle, von Beruf ausgerechnet niedergelassener Frauenarzt und Geburtshel­fer, die von ihm heftig kritisierte christlich-viktorianische Ehemo­ral umgehend durch eine neue, avantgardistisch in naturwissen­schaftlichem Gewand daherkommende: Die Ehe gerät ihm zur Veranstaltung der Erhaltung und Verbesserung der menschlichen Gattung im Sinne der Zuchtwahl mit Gebärpflicht für die nicht- degenerierte Frau. Der nicht benannte, gemeinsame Nenner zwi­schen beiden Formen der Moral ist, daß die Sexualität nie zweck­los, anarchisch oder ungesteuert sein darf. Ordnung, nicht nur im Geschlechterverhältnis, bleibt die erste Bürgerpflicht. Es ist zwar nicht mehr die christliche Moral, dafür nun aber eine »natürliche«, die Zuchtwahl-Ordnung, der die Sexualität untergeordnet wird.